«Riesiges Defizit in der Schweiz»

NeueLuzernerZeitung

Die gewalttätige Fanszene in der Schweiz ändere sich sehr rasch, sagen Forscher. Für die Behörden sehen sie ein Problem für die Euro 08.

INTERVIEW VON EVA NOVAK, BERN

Thomas Busset, Ihr Team untersucht erstmals im grossen Rahmen die Gewaltbereitschaft der Schweizer Fans. Haben Sie bereits Erkenntnisse im Hinblick auf die Euro 08 gewonnen?

Thomas Busset: Wir haben gesehen, dass die Fanszene sehr breit und heterogen ist. In den letzten Jahren hat sie sich stark verändert. Heutzutage sind jene Fans, die sich ausschliesslich für ihre lokale Mannschaft engagieren, in der Überzahl. Für die Nationalmannschaft zeigen sie, wenn überhaupt, sehr viel weniger Interesse. Das zeigt, dass die Probleme, die wir heute mit den Fans haben, nicht die gleichen sind, wie sie sich 2008 stellen könnten.

Zum Beispiel?

Busset: Ein Basler Fan etwa will an einem Match der Nationalmannschaft nicht mit einem Zürcher sympathisieren. Das ist ausgeschlossen.

Was heisst das für die Behörden, die sich auf die Euro 08 vorbereiten?

Busset: Einerseits werden Gesetzestexte entwickelt, die ich für problematisch halte. Anderseits bestehen internationale Kontakte, und die Schweiz wird viel lernen von Deutschland, wo 2006 die WM stattfindet. Die Erkenntnisse aber, die man aus der letzten EM in Portugal hat, werden höchstwahrscheinlich nicht mehr gültig sein.

Die Szene entwickelt sich sehr schnell.

Wo sehen Sie das Problem beim Gesetz?

Busset: Unter dem Begriff Hooligan versucht man, die unterschiedlichsten Typen gewalttätiger Fans mit unterschiedlichsten Motiven zusammenzufassen. Das alles in einem Begriff zu behandeln, ist höchst problematisch und wird der Szene nicht gerecht.

Halten Sie Repressionsmassnahmen wie das Stadionverbot für wirksam?

Busset: Grundsätzlich schon. Für einen echten Fan gibt es nichts Schlimmeres, als nicht an den Match gehen zu dürfen. Das grosse Problem ist, gegen wen ein Stadionverbot ausgesprochen wird, für welche Handlungen es geschieht und wer das Verbot ausspricht. Diese Frage ist noch nicht gelöst, sie sollte im Rahmen einer Verordnung geklärt werden. Da ist noch einiger Zündstoff zu erwarten.

Woran denken Sie?

Busset: Eine Frage lautet, ob das die lokalen Polizeibehörden aussprechen können oder ob es ein Gericht sein muss. Ebenso ist fraglich, welche Tätlichkeiten zu einem Stadionverbot führen sollen. Heute wird die Mehrheit dieser Verbote wegen des Abbrennens von Zündfeuern oder Rauchpetarden ausgesprochen. Man muss sich unter anderem fragen, ob es sinnvoll ist, solche Fans generell mit einem Stadionverbot zu belegen, nicht aber solche, die auf dem Heimweg vom Stadion jemanden verprügeln und allenfalls lebensgefährlich verletzen.

Ist es denn sinnvoll?

Busset: Mir scheint, dass man da Leute kriminalisiert, die man nicht kriminalisieren sollte. Man wirft einfach alle Fans in einen Topf. Man muss sich schon fragen, ob man damit nicht unnötig Menschen stigmatisiert und ob man nicht eher auf erzieherische Massnahmen setzen sollte.

Sind gemäss Ihren Zwischenergebnissen die meisten Hooligans Rechtsextreme?

Busset: Diese Gleichung kann man heute nicht machen. Auch linke Fans nehmen an gewalttätigen Auseinandersetzungen teil. Wir haben beobachtet, dass das Gewicht der rechtsextremen Fans in den Stadions abgenommen hat.

Wie erklären Sie sich das?

Busset: Einerseits haben repressive Massnahmen gewirkt, es gab aber auch innerhalb der Szene Gegenbewegungen. Entweder von antirassistischen Gruppen, oder von Exponenten der Szene, die finden, politische Aussagen hätten im Stadion nichts zu suchen.

Welche Motive sehen Sie hinter der Gewaltbereitschaft vieler Fans?

Busset: Für viele gehört zum Erlebnis Fussball auch eine Auseinandersetzung. Deutsche Forscher sprechen in dem Zusammenhang von einer «Kick-Gesellschaft»: Man braucht einfach den regelmässigen Adrenalinschub. Einzelne Fans haben denn auch Mühe, auszusteigen, und beschreiben ihr Verhalten wie eine Sucht. Diesbezüglich gibt es in der Schweiz ein riesiges Defizit: In der Prävention wird mit Ausnahme eines Fanprojekts in Basel praktisch nichts gemacht.

Forschungsprojekt

Hooligans unter der Lupe

«Hooligans und Rechtsextremismus: Besteht ein Zusammenhang?» Dieser Frage gehen zurzeit Wissenschaftler der Universität Neuenburg im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 40+ nach.

Das Forscherteam will unter anderem untersuchen, unter welchen Umständen es dazu kommt, dass Fussballfans inner- und ausserhalb der Stadien randalieren. Durch die Analyse des Verhaltens und der Einstellung der Fans soll eine gesellschaftliche Antwort auf das Phänomen Hooliganismus gefunden werden.

Neuland für die Schweiz

Es handelt sich um die bisher am breitesten angelegte Studie zum Thema Hooliganismus in der Schweiz, die auch von den Behörden mit einigem Interesse verfolgt wird ­ nicht zuletzt im Hinblick auf die Euro 08. Die definitiven Ergebnisse sollen Mitte nächsten Jahres vorliegen. Gemäss Projektleiter Thomas Busset (vergleiche Interview) wurden einerseits Experten befragt. Anderseits interviewten die Forscher Fans aus Basel, Bern und Genf und begleiteten sie an 60 Fussballspiele. Diese anonymisierten Gespräche werden zurzeit ausgewertet.