Bundesrätin Micheline Calmy-Rey freut sich auf ihre Rütli-Rede am 1. August, hat keine Angst vor Glatzköpfen und hält den Röstigraben für überwunden.
Interview: Philippe Pfister und David Schaffner
FACTS: Frau Bundespräsidentin, in der aktuellen Politik-Umfrage von FACTS schneiden Sie blendend ab. 72 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer würden Sie als Bundesrätin wählen. Wir gratulieren.
Micheline Calmy-Rey: Dieses Resultat freut mich. Nur schade, dass ich nicht vom Volk direkt gewählt werde.
FACTS: Sind Sie denn für eine direkte Volkswahl?
Calmy-Rey: Als Regierungsrätin des Kantons Genf hat mich früher immer das Volk gewählt. Seit ich Bundesrätin bin, liegt der Entscheid bei den Parlamentariern. Das war eine neue Erfahrung für mich ? aber so ist unser System.
FACTS: Warum sind Sie so beliebt?
Calmy-Rey: Das müssen Sie die Menschen fragen. Ich versuche, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen. Die Schweizerinnen und Schweizer sehen und schätzen das. Ich verkörpere ein modernes Bild der Schweiz.
FACTS: Vielleicht liegt es auch daran, dass Sie ein gutes Gespür für populäre Themen haben.
Calmy-Rey: Nein, ich glaube nicht, dass das damit zu tun hat. Die Menschen fühlen sich durch mich in der Regierung gut vertreten.
FACTS: Ein populäres Thema ist sicher die Rütli-Debatte. Sie haben der ganzen Schweiz das Rätsel aufgegeben, wie Sie am 1. August auf die Wiese gelangen. Können Sie das Geheimnis endlich lüften?
Calmy-Rey: Ich werde am 1. August auf dem Rütli eine Rede halten. Ich bin froh, dass es für das Problem des Zugangs nun eine Lösung gibt. Man wird von Luzern per Schiff aufs Rütli fahren können. Ich danke allen Beteiligten, die dazu beigetragen haben, vor allem dem Stadtrat von Luzern. Die Leuchtenstadt macht ihrem Namen alle Ehre. Sie ist ein leuchtendes Beispiel für die Verteidigung unserer Freiheiten. Darum geht es am 1. August.
FACTS: Wer ist als Besucher eingeladen?
Calmy-Rey: Die Details werden noch geregelt. Ich hoffe, dass möglichst viele Schweizerinnen und Schweizer kommen können.
FACTS: Worum wird es an der Feier gehen?
Calmy-Rey: Ich will zusammen mit Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi ein starkes Signal aussenden. Wir sind zwei Frauen aus zwei verschiedenen Landesteilen. Wir verkörpern die moderne, offene Schweiz. Dies ist der beste Beweis für die grosse Freiheit, die wir in diesem Land geniessen.
FACTS: Ihr Auftritt wird für Aufregung sorgen ? ist die Sicherheit der Besucher garantiert?
Calmy-Rey: Es ist klar, dass die zuständigen Behörden gewisse Sicherheitsmassnahmen treffen müssen ? aber nicht im grossen Stil. Eine Feier unter massivem Polizei- oder gar Armeeschutz würde nicht das richtige Abbild unseres Landes ergeben.
FACTS: Sehen Sie keine Gefahr, dass es zu Krawallen zwischen Rechts- und Linksextremen kommen könnte?
Calmy-Rey: Diese Gruppen sind in der Schweiz eine ganz kleine Minderheit. Ich bin nicht blauäugig, aber wir brauchen keine Angst vor ihnen zu haben. Es werden genug demokratisch gesinnte Menschen aufs Rütli kommen.
FACTS: Wie reagieren Sie, wenn Sie während Ihrer Rede am 1. August ausgebuht werden?
Calmy-Rey: Es tat mir weh, als ich vor zwei Jahren die Bilder von der Rütlirede meines Kollegen Samuel Schmid sah. Gerade deshalb will ich, dass es nicht ein zweites Mal so weit kommt. Jetzt kommt es darauf an, den Rechts- und Linksradikalen nicht nachzugeben. Es ist nicht akzeptabel, dass ein paar Extremisten, gerade auf dem Rütli, gerade an diesem Tag unsere Meinungsfreiheit beschränken.
FACTS: Ein Anführer der rechtsradikalen Pnos hat am Fernsehen angekündigt, dass die Rechtsextremen die Rednerinnen stören wollen.
Calmy-Rey: Dann werde ich die Rechtsextremen eben auch stören.
FACTS: Warum wollen Sie eigentlich unbedingt aufs Rütli?
Calmy-Rey: Wir sind eine Nation mit wenigen nationalen Symbolen, und wir ehren sie mit Zurückhaltung. Das ist gut so. Ich bin Genferin und komme aus einem Kanton, der erst 1815 der Eidgenossenschaft beitrat. Für viele Deutschschweizer ist Genf fast schon französisch ? und gehört gar nicht richtig zur Eidgenossenschaft. Aber sie irren sich. Wir Genfer sind stolz darauf, Schweizer zu sein. Das Rütli ist auch für uns der Ort, an dem dieses Land entstanden ist. Das Rütli hält uns zusammen, es ist das wichtigste Symbol der Schweiz.
FACTS: Viele Innerschweizer sagen, sie wünschen eine lokale Feier.
Calmy-Rey: Das Rütli gehört dem ganzen Land. Bei meinen Bürgergesprächen in den Kantonen stellen die Menschen viele Fragen zum Rütli. So war es in Moudon, so war es in Bellach im Kanton Solothurn, und so war es auch im nidwaldischen Stans. Viele wollen aufs Rütli kommen.
FACTS: Auch die Innerschweizer?
Calmy-Rey: Sicher, aus allen Landesteilen.
FACTS: Spielen Sie derart erfolgreich auf der Tastatur der patriotischen Gefühle?
Calmy-Rey: Patriotismus ist die Verbundenheit mit dem eigenen Land. Mit Landschaft, Bergen, Seen, Gerüchen, Lebensweisen, Geschichte und Institutionen. Pat-riotismus steht für das Gemeinsame, für das, was uns eint. Was habe ich als Genferin mit Ihnen gemeinsam? Sicher nicht die Sprache. Aber wir stimmen über dieselben Vorlagen ab, wählen dasselbe Parlament, wir essen Fondue und unterstützen Federer und «Alinghi». Und wir sind stolz auf unsere offene, multikulturelle und demokratische Schweiz. Da ist nicht nur Vernunft, da sind auch Emotionen mit im Spiel. Ich teile sie mit den Schweizerinnen und Schweizern.
FACTS: Verkörpert das Rütli auch die Integration der Ausländer?
Calmy-Rey: Das Rütli symbolisiert die Schweiz von heute, die vor Herausforderungen steht. Eine davon ist die Integration der Ausländer.
FACTS: Für die Linke waren patriotische Gefühle und Symbole bis vor kurzem suspekt. Sind Sie die Vorreiterin eines neuen, sozialdemokratischen Patriotismus?
Calmy-Rey: Wir leben heute in einem neuen Zeitalter der Globalisierung. Wir werden in weit entfernte Konflikte verwickelt, wenn plötzlich viele Menschen zu uns flüchten. Ursachen der heutigen Probleme sind Konflikte, Umweltkatastrophen, Terrorismus, Klimawandel. Solche Risiken kann die Schweiz nur gemeinsam mit anderen Staaten angehen. Wir schützen unseren Wohlstand am besten, wenn wir eine aktive Aussenpolitik betreiben, zum Beispiel mit Friedensförderung. Patriotismus und internationales Engagement gehören heute zusammen. Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist wichtig, dass wir wissen, wer wir sind. Nur so können wir uns in der Welt behaupten.
FACTS: Schicken Sie die SP-Parlamentarier nun in einen Kurs, wo sie lernen zu jodeln und die Fahne zu schwingen?
Calmy-Rey: Da müssen Sie SP-Präsident Hans-Jürg Fehr fragen.
FACTS: Die politischen Gegner der SP freut es nicht, dass diese den Patriotismus entdeckt. Um die Rütlifeier brach deshalb eine heftige Kontroverse aus. Haben Sie das erwartet?
Calmy-Rey: Die Kontroverse hat mich nicht überrascht, die vielen Reaktionen aus der Bevölkerung schon. Sie zeigen, dass den Menschen das Rütli am Herzen liegt. Sie wollen Zivilcourage zeigen und das Feld nicht den Extremisten überlassen.
FACTS: Die Kontroverse zeigt vor allem: Das Rütli ist das bisher wichtigste Wahlkampfthema.
Calmy-Rey: Für mich geht es nicht um Wahlkampf. Es geht um meine Pflicht, als Bundespräsidentin die Redefreiheit zu verteidigen. Auf diese Aufgabe bin ich stolz. Ich kann nicht die Präsidentin eines Landes sein, in dem man nicht frei reden darf.
FACTS: Sie haben es geschafft, gegen heftigen Widerstand eine Lösung für die Feier zu finden. Damit haben Sie einen klaren Sieg über Bundesrat Christoph Blocher errungen. Um einen solchen Sieg geht es der SP doch auch im Herbst.
Calmy-Rey: Das ist Ihre Interpretation. Es geht mir nicht darum, irgendeinen Kollegen oder irgendeine Partei zu besiegen.
FACTS: Wie erklären Sie sich dann den heftigen politischen Widerstand gegen die Feier?
Calmy-Rey: Ich glaube nicht, dass man sich in der Innerschweiz gegen die Linken oder gegen die Frauen gewehrt hat. Die Politiker machten sich Sorgen wegen der Sicherheit, und ich kann das verstehen.
FACTS: Viele Politiker sagen, dass die politischen Auseinandersetzungen immer respektloser und brutaler werden. Beobachten Sie eine solche Verrohung der politischen Kultur?
Calmy-Rey: Generell erlebe ich das nicht. Mit einzelnen Personen gibt es Schwierigkeiten, sicher. Es gibt verzweifelte Menschen, die gefährlich werden können. Das ist aber nicht ein Ausdruck unserer politischen Kultur. Die Schweiz lebt vom Dialog, das ist immer noch so. Das zeigt sich übrigens immer wieder in unseren Bürgergesprächen.
FACTS: Bei diesen Gesprächen halten Sie sozusagen den Fiebermesser in die Bevölkerung und messen die Sorgen, welche die Menschen beschäftigen. Welche Prob-leme stehen ganz zuoberst?
Calmy-Rey: Die Schweizerinnen und Schweizer machen sich grosse Sorgen wegen der Gewalt, der Jugendgewalt im Besonderen. Häufige Themen sind auch die Integration von Ausländern, die Kluft zwischen Arm und Reich oder die Umweltzerstörung. Der Strukturwandel beschäftigt die Leute, überall geraten bestehende Gefüge ins Wanken. Die Menschen in der ganzen Schweiz sind unsicher, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt. Das sind die neuen sozialen Themen. Hier müssen wir Lösungen finden. Das habe ich auch meiner Partei gesagt.
FACTS: Werten Sie die Resultate der Bürgergespräche aus?
Calmy-Rey: Ja. Wir planen eine Zusammenfassung, die ich dem Bundesrat vorlegen werde. Interessant ist, dass zwischen der Deutschschweiz und der Romandie keine grossen Unterschiede bestehen, was die Themen betrifft. Ausser vielleicht, dass die Romands ein bisschen mehr sprechen bei den Treffen (lacht). Aber sie sagen dasselbe.
FACTS: Den Röstigraben gibts nicht mehr?
Calmy-Rey: Heute geht es nicht mehr um die Unterschiede zwischen den Landesteilen. Es geht vielmehr um den Gegensatz zwischen Stadt und Land.
FACTS: Haben sich die Romands den Deutschschweizern angepasst?
Calmy-Rey: Nein, wir können hier vielmehr die Vorteile eines multikulturellen Landes beobachten. Beide haben voneinander gelernt. Die Romands haben ein bisschen den Geist der Deutschschweizer angenommen und umgekehrt. Die einen haben den Fleiss und die anderen die Kreativität von den anderen angenommen. Wir haben das Beste von beiden Seiten vereint. ?
Calmy-Reys grosser Sieg
Die Familienfeier auf der Rütliwiese wird so stattfinden, wie sie die Rütlikommission vor Monaten vorstellte. Der Frauendachverband Alliance F verteilt die 1700 Tickets. Für die Kosten des privaten Sicherheitsdienstes kommt die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft auf. Sie organisiert auch die Schiffe ab Luzern. Diesen Freitag tagt die Rütlikommission und entscheidet über Details.