Micheline Calmy-Rey war in Uri willkommen und begeisterte auf dem Rütli. Nach dem Ende der Feier explodierte mitten unter den Leuten eine Petarde.
Von Thomas Bolli, Rütli
«Ich bin regelrecht schockiert», sagt Uris Sicherheitsdirektor Josef Dittli. Er hatte den Knall zwar gehört, aber nicht wirklich gesehen, was passiert war. Später sah er das Loch in der Wiese, die Kabel, eine Batterie. «Das ist klar eine Zündvorrichtung, da hat jemand vorsätzlich, mutwillig, böswillig Schaden erzeugen wollen.» Das sei eine neue Dimension, sagt Dittli, mit einer solchen Aktion habe man nicht rechnen können, nicht rechnen dürfen.
Die Petarde ging kurz nach dem Ende der Feier los. Noch immer standen und sassen viele Frauen, Männer, Kinder auf dem Rütli. Die Explosion warf Erde hoch, einige Menschen sprangen erschreckt auf. Ein Anschlag aufs Rütli, so muss man das wohl bezeichnen. Verletzt wurde niemand, es gab keine Anzeichen von Panik. Wäre der Sprengsatz stärker gewesen, die Folgen hätten verheerend sein können.
Die Urner Kantonspolizei will die näheren Umstände abklären. Bereits heute möchte Josef Dittli orientieren. «Ich erkläre diesen Vorfall zur Chefsache», sagte er am Abend des 1. August.
Dabei war die Feier ausgesprochen stimmungsvoll verlaufen. «Es ist schön, dass sich die Schweiz so versammelt», sagte etwa die 16-jährige Ylenia Müller aus Baar ZG. Sie war mit ihrer Familie gekommen, alleine von sich aus hätte sie den Tag nicht auf der Nationalwiese verbracht.
Calmy-Reys Starauftritt
Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey war der umjubelte Star. Sie hatte im Vorfeld munter wiederholt, sie werde am 1. August auf dem Rütli sein, auch als die Feier nicht zu Stande zu kommen schien. Und sie wurde in Uri herzlich empfangen, ja gefeiert: von Frauen und Männern, von Jungen und Alten, von den Fans aus der Westschweiz und von den Fans aus der Restschweiz. Die rund 2000 Gäste auf dem Rütli – darunter auch politische Prominenz aus fast allen Parteien – applaudierten nach ihrer Rede so ausgiebig, dass sie eigentlich eine Zugabe hätte geben müssen. Aber das ist ja bei Reden bis heute nicht üblich.
Micheline Calmy-Rey dankte am Anfang allen, die aufs Rütli gekommen seien, um die Freiheitsrechte zu verteidigen. Das Rütli symbolisiere das, was die Schweiz eine. Es gehe deshalb nicht an, dass eine Minderheit die Feier auf der Nationalwiese für sich alleine beanspruche, anderen den Zugang verwehre und das Wort verbiete. Sie setzte sich in ihrer Rede für die Rechte der Frauen ein und kritisierte indirekt die Ausschaffungsinitiative der SVP. Da würden Ängste und Sorgen schamlos ausgenützt. Früher hätten sich diese Attacken gegen die italienischen Gastarbeiter gerichtet, heute seien Muslime zum Gegenstand dieses neuen Kulturkampfs geworden. Die Schweiz, sagte Calmy-Rey, werde auch im 21. Jahrhundert ihre Identität behalten können.
Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi lobte in ihrer Rede das Konkordanzsystem und die direkte Demokratie. Sie betonte auch, dass in der Schweiz keine politische Partei allein dafür sorgen könne, dass es dem Land gut gehe.
Gekommen wegen der Frauen
Zum ersten Mal aufs Rütli gereist war Marie-Claude Bruce aus Basel. «Ich bin gekommen, um ein Zeichen zu setzen gegen die Rechtsradikalen. Und ich bin gekommen wegen Micheline Calmy-Rey. Es ist bewunderungswürdig, wie sie von Anfang an klar Stellung bezogen hat und nicht von ihrer Linie abgewichen ist.» Marie-Claude Bruce hat Kolleginnen motiviert mitzukommen. Ruth Bütikofer-Schwalbe aus Zürich kam ebenfalls wegen der Bundespräsidentin und ihres Muts. Und wegen der Frauen. Und weil sie Schweizerin sei. Die 81-jährige Österreicherin Monika Wibmer, die seit 54 Jahren in der Schweiz wohnt, ist glücklich, in diesem Land leben zu dürfen. Sie sei froh, dass die Polizei für Sicherheit sorge. Aber – so ergänzt die Tochter – Monika Wibmer wäre auch ohne Polizeischutz gekommen, aber mit einem Schirm bewaffnet, wie die beiden lachend sagen.
Die Feier konnte nur dank vielen Polizisten und Sicherheitskräften ungestört ablaufen. Bereits am frühen Morgen hatten gegen 20 Personen aus der rechtsextremen Szene versucht, mit Schlauchbooten von Brunnen aus aufs Rütli zu gelangen. Gegen Mittag ruderten erneut rund 30 Rechtsradikale über den See. Sie wurden von der Seepolizei aufgehalten.
Rechtsextreme Versuche
Die Rechtsradikalen versuchten in allen Varianten, auf die Wiese zu gelangen. Über 60 Personen wurden auf dem Weg von Bauen hinauf nach Seelisberg gestoppt und zurückgewiesen. Auch auf der Kantonsstrasse nach Seelisberg hielt die Polizei 19 Autos an und verwehrte ihnen die Weiterfahrt. Sechs Rechtsextremen gelang es, ohne Ticket in die Nähe der versammelten Gäste auf dem Rütli zu gelangen. Sie wurde von Sicherheitskräften aufgehalten und von der Polizei weggeführt.
Die Polizei wusste im Voraus, dass rund 20 bis 30 Rechtsextreme sich ein Ticket fürs Rütli hatten verschaffen können. Sie verhielten sich auf der Wiese ruhig, trugen Fahnen mit sich und sangen am Schluss die alte Nationalhymne. Am Abend rief die Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) ihre Gesinnungsgenossen auf, am kommenden Sonntag aufs Rütli zu reisen. Es sei an der Zeit, «zu einem weiteren Schlag gegen die Etablierten auszuholen».
Die befürchteten Ausschreitungen sind ausgeblieben
Aufatmen in Luzern: Die Abfahrt der Schiffe mit Rütli-Besuchern verlief ohne Störungen, die linke Gegendemo verkam zur Farce.
Von Daniel Foppa, Luzern/Altdorf
Schlag 11.00 Uhr legt die Winkelried beim Kultur- und Kongresszentrum Luzern ab. Es ist das erste von drei Schiffen, das die Besucher der Bundesfeier aufs Rütli bringt. Ein Dutzend Securitas-Beamte kontrollieren die Zugangstickets, ohne die niemand aufs Schiff gelangt. Die Kontrollen sind minim. Zu sehen sind ein paar Absperrgitter und einzelne Zivilpolizisten – kein Vergleich zu den massiven Sicherheitsmassnahmen, die letztes Jahr das Dorf Brunnen SZ in eine Festung verwandelt hatten.
Unter den Besuchern sind auffallend viele Westschweizer. «Wir sind zur Unterstützung von Micheline Calmy-Rey da», sagt eine gut gelaunte Gruppe Jugendlicher aus dem Wallis. Vor den Absperrgittern sammelt eine Gruppe von Schweizer Demokraten Unterschriften für ihre Petition «Das Rütli gehört allen!». Ihr Wortführer ist sichtlich in Rage, dass das Rütli nur ausgelesenen Gästen offen steht: «Das ist eine unmögliche, absolut undemokratische Selektion.» Kein Glück hat auch ein 76-Jähriger in historischer Luzerner Uniform. Ihm wird der Zugang verwehrt wegen der mitgeführten Hellebarde – auf dem Rütli werden keine Waffen geduldet, nicht einmal solche aus dem Museum.
Polizei im Hintergrund
Um 12.30 fährt in einer schwarzen Limousine Nationalratspräsidentin Christine Egerszegi vor. «Ich bin froh, dass bisher alles gut gegangen ist», sagt die in Aargauer Festtagstracht angereiste Politikerin. FDP-Präsident Fulvio Pelli und Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz geleiten Egerszegi zum wartenden Schiff, wo sie mit Applaus empfangen wird.
Eine halbe Stunde nachdem das Schiff abgelegt hat, versammeln sich etwa 80 Linksaktivisten vor dem Bahnhof und zünden Rauchpetarden. Die Stadt hat keine Demonstrationsbewilligung erteilt, weshalb das «Bündnis für ein buntes Brunnen» zu einer «No Demo» aufgerufen hat. Geplant war, mit spontanen Aktionen wie Strassentheater oder Pantomime gegen die Rechtsextremen sowie gegen «pseudolinken Nationalstolz» zu protestieren.
Die Manifestation verkommt zur Farce: Eine einzige Gruppe beweist Kreativität und hat sich in Anspielung auf die Rütli-Sponsoren als «Hayek und Ammann»-Polizisten verkleidet. Ansonsten verteilen die Aktivisten Flugblätter, diskutieren mit einer missionierenden Gruppe überzeugter Christen, trinken Bier und lassen sich mit japanischen Touristen fotografieren. Die Polizei hält sich im Hintergrund. Am späteren Nachmittag formieren sich die Aktivisten schliesslich zu einem Demonstrationszug, den die Polizei auflöst. 20 Personen werden vorübergehend festgenommen.
Nicht blicken lassen sich die Rechten in Luzern. Stattdessen machen sich etwa 100 von ihnen nach dem gescheiterten Versuch, aufs Rütli zu gelangen, auf den Weg nach Altdorf. Die stark präsente Polizei weist sie jedoch auch hier zurück. Es kommt zu keinen Problemen. Um 17.30 trifft Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey ein und hält vor etwa 1000 Personen ihre zweite Rede in der Zentralschweiz. Sie dankt den Urnern, die die Feier auf dem Rütli ermöglicht haben, und ruft zur Verteidigung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit auf. «Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Minderheit sagt, wann in der Schweiz Versammlungsfreiheit gilt», sagt Calmy-Rey, bevor sie nach Unterbäch im Wallis weiterzieht. Die Menge verdankt es mit zurückhaltendem Applaus.