«In Zukunft Finger weg von Feuerwaffen»
18 Monate Gefängnis bedingt für vier Schüsse auf einen Polizisten in Zivil: Laut Gericht befand sich der Schütze in einer strafmildernden Notwehrsituation. Der Griff zur Waffe war aber unverhältnismässig.
*Stefan Geissbühler
Gerichtspräsident Hans-Peter Schürch machte es in seiner gestrigen Urteilsbegründung klar: «In Zukunft Finger weg von Feuerwaffen!» Adressat der richterlichen Ermahnung: Der 22-jährige Oberländer, der im März 1999 beim Interlakner Westbahnhof auf einen Polizisten in Zivil geschossen hatte (vgl. BZ von gestern). Der Kantonspolizist überlebte nur dank einer kugelsicheren Weste. Diese hatte der Beamte eigentlich am Tattag gar nicht anziehen wollen – erst auf Drängen eines Kollegen hin liess er sich dazu überreden. Die Weste rettete dem Beamten das Leben, der Täter hatte gezielt auf den Bauch des Opfers geschossen – aus weniger als zwei Metern Distanz.
«Putativnotwehrexzess»
Das Kreisgericht Interlaken-Oberhasli verurteilte den jungen Mann zu 18 Monaten Gefängnis bedingt auf drei Jahre. Der Schuldspruch: vollendeter Versuch der vorsätzlichen Tötung im Putativnotwehrexzess. Die Übersetzung von der Juristen- in die Normalsprache lautet folgendermassen: Der Täter glaubte, er werde verfolgt und angegriffen und sei deshalb zur Notwehr berechtigt (Putativnotwehrsituation). Die Notwehrsituation fand also ausschliesslich im Kopf des jungen Schützen statt, da der Polizist nur eine Personenkontrolle durchführen und keineswegs angreifen wollte. Mit den Schüssen ohne Vorwarnung hat er dann unverhältnismässig gehandelt (Notwehrexzess), da er zu ungefährlicheren Mitteln hätte greifen können und müssen. Vollendet ist der Tötungsversuch schliesslich, weil der Mann alles getan hat, um den Polizisten zu töten und dieser nur dank der schusssicheren Weste überlebt hat. Die «nur» versuchte Tötung und die Notwehrsituation – auch wenn diese nur eingebildet war, führen zu massiver Strafmilderung. Gerichtspräsident Schürch bezeichnete die verhängte Strafe – sie entspricht dem Antrag der Staatsanwaltschaft – als «sehr, sehr moderat».
«Nicht rechtsextrem»
Vom Rechtlichen zur Tat: Der junge Oberländer nimmt am 14. März 1999 seine Pistole in den Ausgang mit – «zum Eigenschutz». Er ist Waffenfan, beschäftigt sich mit Kriegsgeschichte, trainiert Thai-Boxen und Karate und streicht in seiner Agenda «aus historischem Interesse» Adolf Hitlers Geburtstag und die Kapitulation Deutschlands Truppen an. Bekannte beschreiben ihn als «rechts, aber nicht rechtsextrem». Um drei Uhr morgens wartet er beim Westbahnhof auf Bekannte. Der Polizist in Zivil naht auf dem Velo und will den «verdächtigen und nervösen» jungen Mann kontrollieren.
Kontrolle geht schief
Der Beamte greift wortlos in die Jackentasche und will seinen Ausweis zücken. Der junge Mann glaubt, dieser behändige eine «Stichwaffe» und flüchtet – der Polizist in Zivil hinterher. Er ruft: «Halt, Polizei, oder ich schiesse!» Der Flüchtende versteht «Du Huderibueb» und flüchtet weiter. Er hat also keine Ahnung, dass ihm ein Polizist auf den Fersen ist. Er dreht sich um und schiesst viermal auf den Verfolger – in den Bauch, da «der Bauch eine grössere Angriffsfläche als etwa die Beine bietet». «Der Angeschuldigte zeigte eine hohe Bereitschaft, sofort eine tödliche Waffe zu ziehen und zu schiessen», stellte Gerichtspräsident Schürch fest. Der Täter verfüge über ein «erhöhtes Mass an krimineller Energie». Aber: Der Polizist sei bei der Kontrolle auch «nicht völlig fachgerecht» vorgegangen, da er nichts gesagt habe. «Es ist nachvollziehbar, dass sich der junge Mann bedroht gefühlt und sich eine Notwehrsituation eingebildet hat», sagte Richter Schürch. Mit den Schüssen habe er aber «Grenzen der Notwehr überschritten». Der junge Oberländer muss dem Kantonspolizisten Anwaltskosten, Genugtuung und Schadenersatz von über 13 000 Franken bezahlen.*