Nur ein totes Romakind

Die Wochenzeitung

 

UNGARN-Antisemitische Propaganda, paramilitärische Bürgerwehren, Morde an Roma: Die Lage erinnert an deutsche Verhältnisse Anfang der dreissiger Jahre. Und nur wenige scheint das zu stören.

 

Nur ein totes Romakind

Von Keno Verseck, Budapest/Györ

In den Vorgärten hocken kleine, bösartige Kläffer. Beim Anblick fremder PassantInnen geraten sie ausser sich. In blinder Raserei springen sie gegen Zäune. Entfesselte Tobsucht zwischen Geranien und Stiefmütterchen.

Eine Eigenheimsiedlung am Rand der Industriestadt Györ in Nordwestungarn. Dezsö und Erika Szabo, beide 33, sind Eltern zweier kleiner Mädchen. Sie sitzen in der Küche ihres Hauses und machen sich Gedanken über ihre Zukunft und wie sie die Raten für einen Hypothekarkredit und zwei Pkws zahlen sollen. Seit Ausbruch der Finanzkrise hat die ungarische Währung ein Viertel ihres Wertes verloren, die Raten der Szabos haben sich verdoppelt. Da bleibt kaum noch Geld zum Leben.

Dezsö Szabo ist Automechaniker, ein bulliger Typ mit kahl geschorenem Schädel. Seine Frau Erika ist Angestellte bei den Stadtwerken, klein, schmal, fast verhärmt. Sie ist verbittert. Schuld an der Krise seien die amerikanischen Banken und die Juden, sagt sie. Jeden Tag sehe sie, wie kleine Firmen Pleite gingen, während die ungarischen PolitikerInnen sich bereicherten. Dann zieht sie plötzlich über die Roma her. «Sie können nicht lesen und schreiben, haben aber einen Führerschein und holen ihre Sozialhilfe im Mercedes ab», sagt sie. Ihr Mann nickt dazu. «Man sollte diese arbeitsscheuen Zigeuner wirklich ins KZ zur Zwangsarbeit schicken.»

Vergangene Vorbildzeiten

Verbitterung, Hysterie und Hass – im Ungarn dieser Tage sind sie so verbreitet wie nie zuvor in den letzten Jahrzehnten. Viele verzweifeln an wirtschaftlichen Schwierigkeiten, viele denken wie die Eheleute Szabo. Einst war Ungarn die «lustigste Baracke» im Ostblock, nach dem Ende der Diktatur 1989 das Mus terland in Osteuropa. Heute ist Ungarn an einem Tiefpunkt seiner nachkommunistischen Geschichte angelangt. Die politische Elite geniesst kaum noch Vertrauen, der Staat steht vor der Pleite. Rechtsextreme erstarken, und Gewalt gegen Roma ist nahezu alltäglich.

In den letzten anderthalb Jahren wurden acht Roma ermordet, Ende Februar traf es zwei auf besonders hinterhältige Weise: In Tatarszentgyörgy südlich von Budapest zündeten Unbekannte das Haus einer Romafamilie an. Als der 27-jährige Vater mit seinem vierjährigen Sohn aus den Flammen flüchtete, erschoss einer der Täter die beiden mit einer Schrotflinte. Zwei Monate später ein weiterer Mord aus dem Hinterhalt: Im ostungarischen Tiszalök erschoss ein Unbekannter den 54-jährigen Jenö Koka, als dieser abends aus dem Haus trat, um zur Spätschicht in ein Chemiewerk zu fahren. Koka hatte dort dreissig Jahre lang als Maschinenwart gearbeitet und war gerade für seine Treue ausgezeichnet worden. Der Philosoph und frühere antikommunistische Bürgerrechtler Gaspar Miklos Tamas stellt angesichts solcher Verbrechen eine düstere Diagnose: «Das Eis der Zivilisation ist in Ungarn dünn. Es bricht gerade ein.»

Wie konnte es so weit kommen? Der Historiker Krisztian Ungvary sieht die Entwicklung als eine Art fällig gewordene Hypothek für den «Gulaschkommunismus» der Kadar-Diktatur. Janos Kadar war der Mann, der die ungarische Revolution von 1956 blutig niederschlug und den UngarInnen anschliessend als Gegenleistung für ihr politisches Schweigen viel kreditfinanzierten Konsum und kleine Wirtschaftsreformen anbot (siehe WOZ Nr. 47/08). Das Modell funktionierte bis in die Vorwendezeit. Reformen, die seither notwendig wurden, hat Ungarn zwar teilweise in Angriff genommen, doch sie scheiterten immer wieder. «Es gibt kein Freibier in der Geschichte», sagt Ungvary, «nach Jahrzehnten der Schonzeit müssen wir jetzt politisch und wirtschaftlich zahlen.»

Nichts funktioniert mehr

Ungarn hat einen riesigen Schuldenberg angehäuft. Vor allem in den letzten Jahren haben sich mehrere sozialistisch-liberale Regierungen als unfähig erwiesen, die Strukturprobleme in der Verwaltung und im Bildungs- und Gesundheitssystem zu lösen. Hinzu kommt eine innenpolitische Krise: Die Nationalkonservativen des Bundes Junger Demokraten, derzeit in der Opposition, vergiften die öffentliche Stimmung schon seit Mitte der neunziger Jahre mit ultrarechter Rhetorik. Gleichzeitig machen PolitikerInnen aller Parteien durch Korruptionsaffären von sich reden. Auch die Finanzkrise erschüttert Ungarn: Einen Staatsbankrott konnte das Land vergangenen Herbst nur durch Notkredite der EU, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank abwenden.

Ein Klima wie geschaffen für den Aufstieg der Rechtsextremen. Die Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres und rechteres Ungarn), die mit Abstand stärkste Rechtsaussenkraft, hat in den letzten Monaten vor allem bei Kommunalwahlen zugelegt. Im Schnitt kam sie auf zehn Prozent. Im nächsten Jahr will sie ins ungarische Parlament einziehen. «Ungarn den Ungarn!» lautet das Motto von Jobbik. Ihre Werbespots zeigen eine Faust, die auf den Tisch haut. Dazu klare Worte: «Verbrecher ins Gefängnis! Ordnung, Ruhe, Wachsamkeit!» Die Partei ist gegen die «liberale Lahme-Enten-Demokratie», gegen die «Vormacht multinationaler Konzerne», gegen die «Leere der Konsumgesellschaft» und für einen «starken, christlichen Staat» aus einem «nationalen Netz lebensstarker, kleiner Gemeinschaften».

Doch nicht Randständige gehen mit solchen Parolen hausieren. Die Mitglieder der Jobbik-Parteielite stammen fast ausschliesslich aus dem Kleinbürgertum. Sie sind Lehrerinnen, Ingenieure, Juristinnen, Beamte oder Studentinnen und pflegen das Image sauberer PatriotInnen. Sie sind VertreterInnen eines «von hysterischer Absturzangst erfassten Mittelstandes», sagt Tamas.

«Schöne Zukunft»

Budapest an einem Frühlingsnachmittag. Eine Jobbik-Veranstaltung am Rande des Parlamentsplatzes. Es spricht Krisztina Morvai, die Jobbik-Spitzenkandidatin für das Europaparlament. Die 46-jährige dreifache Mutter ist eine smarte Juristin. Sie lehrt Strafrecht an der Budapester Universität. In ihrer Rede spricht sie von «unsereins» und «ihresgleichen». Mit «ihresgleichen» meinen Ungarns AntisemitInnen die JüdInnen. «Ihresgleichen Zeit ist abgelaufen», ruft Morvai unter tosendem Beifall.

Eine Gruppe von zweihundert Uniformierten marschiert auf: schwarze Hosen und Westen, weisses Hemd, Gesichter mit Stahlgewitterblick, perfekt eingeübter Gleichschritt. Auf Befehl des Kommandanten halten sie an. «Ungarische Garde, gebs Gott!», schreit er heiser. «Schöne Zukunft!», brüllen die GardistInnen zurück. Das Echo hallt durch die Strassen.

Die Ungarische Garde, gegründet im August 2007 vom Jobbik-Chef Gabor Vona, ist ein paramilitärischer Trupp schwarzuniformierter Ordnungshüter Innen. Ganz im Gegensatz zur Jobbik-Elite kommen die Gardemitglieder vor allem aus der Schicht der Armen und schlecht Ausgebildeten. Die Gesellschaft hat immer weniger Verwendung für sie. Nahezu täglich marschieren Einheiten der Schwarzuniformierten irgendwo in Städten und Gemeinden auf, sorgen angeblich für mehr öffentliche Sicherheit und weniger «Zigeunerkriminalität».

Doch die Garde ist nur die sichtbarste Seite einer Wächtermanie im Land. Ausser der Garde gibt es zahlreiche lokale und nationale Volks- und Bürgerwehren. «Hier arbeitet eine Bürgerwache» ist neben den Ortsschildern vieler Gemeinden und Städte zu lesen. Die Volkstruppen haben den Status einer Art freiwilligen kommunalen Polizei. BürgerwächterIn zu sein ist ein Ehrenamt, man zahlt Vereinsbeiträge und darf dafür zusammen mit örtlichen PolizistInnen Streifendienst leisten. Jüngst legte die sozialistisch-liberale Regierungskoalition einen Gesetzesentwurf vor, demzufolge Bürgerwehren ihre Mitglieder mit Gummiknüppeln und Tränengasspray ausrüsten dürfen.

Unternehmer machen mit

Von einer starken Bürgerwehr träumen auch die älteren, gut gekleideten Herren in einem Villenvorort der wes t ungarischen Stadt Szekesfehervar. Sie scharwenzeln um den jungen Mann mit den unschuldigen braunen Augen herum. Sie haben begeistert geklatscht nach seinem Vortrag, zu dem JournalistInnen nicht zugelassen waren. Nun verabschieden sie den Herrn Vorsitzenden.

Die älteren Herren sind führende Unternehmer aus der Region. Der junge Mann ist Gabor Vona, der Jobbik- und Garde-Chef. Er hat sich und seine Partei präsentiert. Jetzt blickt er auf die dienernden Herren und scheint selbst überrascht, wie gut er in den besseren Kreisen ankommt. Ständig, klagt er, werde er in den «liberalen Vaterlandsverrätermedien» als «Nazi, Faschist und Extremist» beschimpft, dabei sei er allenfalls ein «Nationalradikaler».

Vona ist eigentlich Geschichtslehrer, arbeitet aber als Produktmanager für Sicherheitstechnik. Überall in und um Ungarn wittert er Kriminelle, VerräterInnen und Feinde, die das Land zerstören wollen. Parteien wie der liberale Bund Freier Demokraten, sagt er, müssten verboten werden. Vonas politisches Ideal ist ein völkisch-nationales Regime wie unter dem autoritären, anti semitischen, mit Adolf Hitler verbündeten Reichsverweser Miklos Horthy in den zwanziger und dreissiger Jahren. «Die öffentliche Empörung wächst», sagt Vona, «man will, dass endlich jemand Ordnung schafft, deshalb erhalten wir immer mehr Unterstützung.»

Jenö Radetzky hat Vonas Vortrag schweigend angehört. Der Unternehmer und Chef der örtlichen Industrie- und Handelskammer hütet sich vor klaren Positionen. Er sei gegen Gewalt und auch gegen Aufmärsche der Garde, aber man müsse den Hintergrund verstehen. Der Staat schütze seine Bürger und Unternehmer nicht mehr. «Ständig wird in Firmen eingebrochen, auch in meine. Da kommt irgendwann dieser Selbstschutzreflex.»

Ist die Ermordung eines Kindes Teil dieses Reflexes? Radetzky zuckt die Schultern. «In keinem einzigen Fall konnte man beweisen, dass die Garde irgendetwas mit Gewalt zu tun hatte», sagt er.

PolitikerInnen schauen weg

Das Ausmass der Akzeptanz für Jobbik und die Ungarische Garde wundert den Philosophen Tamas nicht. «Die rechtsextreme Hysterie und die Stimmungsmache gegen Roma sind eigentlich ein Aufstand des Mittelstands», sagt er. «In den ökonomisch schwachen osteuropäischen Gesellschaften ist der Staat für viele der einzige Garant eines erträglichen Lebensstandards.» Aber die Ressourcen des Staates würden immer kleiner. Also müsse man seine Konkurrenten kriminalisieren und ausschalten.

Tamas denkt beim Stichwort «Konkurrenz ausschalten» allerdings eher an den sozialen Kahlschlag, der in Ungarn auf Kosten der Armen, Alten und Kranken betrieben wird, nicht an Mordaktionen gegen Roma. Warum niemand aufsteht, wenn Kinder ermordet werden, kann er nicht erklären. Er findet es einfach entsetzlich.

So wie Aladar Horvath. Der Roma aktivist und Politiker kämpft seit über zwei Jahrzehnten gegen die Diskriminierung von Roma. Alle Arbeit sei umsonst gewesen, sagt er resigniert. «Bisher hatten wir immer jemanden aufseiten der Macht, egal ob rechts oder links, der uns geholfen hat. Jetzt sind wir praktisch vogelfrei.»

Vielleicht wäre das eine Erklärung für die immer grössere Brutalität der Verbrechen an Roma und die fehlende Solidarität. Daran glaubt jedenfalls eine andere Romaaktivistin: Timea Bo rovszky, Anwältin und Leiterin der Abteilung für Chancengleichheit im Bildungs- und Kulturministerium. «Die politische Elite», sagt sie, «müsste als Ganzes aufstehen und entschlossen verkünden, dass solche rechtsextremen Verbrechen an Roma nicht geduldet werden.» Stattdessen signalisiere sie in der Öffentlichkeit Desinteresse. «Das ist viel besorgniserregender als die Verbrechen an sich.»

Dezsö Szabo hat viele Freunde, die Mitglieder der Ungarischen Garde sind. Er wäre selbst gern eingetreten. Seine Frau erlaube ihm das aber nicht. Ihr Mann, der sich an Gewaltakten beteiligt: Das könnte negative Folgen auch für sie und ihre Kinder haben, so Erika. Doch gegen die Arbeit der Garde an sich hat sie nichts einzuwenden. «Eigentlich ist es gut, was die Garde macht. Sie sorgt für Sicherheit. Das Einzige, wovor die Zigeuner Angst haben, ist die Garde», sagt sie.

Historischer Wahlerfolg

Die rechtsextreme Partei Jobbik (Bewegung für ein besseres und rechteres Ungarn) kam bei den Europawahlen vergangenen Sonntag auf fünfzehn Prozent der Stimmen und kann somit drei Abgeordnete ins Europaparlament schicken. Damit ist Jobbik die drittgrösste politische Kraft im Land, nach dem nationalkonservativen Bund Junger Demokraten (Fidesz) und der Ungarischen Sozialistischen Partei (MSZP). Es handelt sich um den grössten Erfolg einer rechtsextremen Partei in Ungarn seit dem Ende der Diktatur 1989. Nur einmal zuvor hatten RechtsextremistInnen einen ähnlichen Wahlerfolg gehabt: 1998 erhielt die Ungarische Wahrheits- und Lebenspartei (MIEP) bei nationalen Parlamentswahlen 5,5 Prozent der Stimmen, schaffte aber 2002 die Fünfprozenthürde nicht mehr.

Laut Meinungsumfragen des ungarischen Instituts Progressziv sympathisiert jeder Zehnte mit der paramilitärischen Ungarischen Garde (vgl. Haupttext). Mehr als die Hälfte aller Befragten fürchtet sich vor «Zigeunerkriminalität», und nur fünf bis sieben Prozent glauben, dass extremistische Organisationen eine Gefahr darstellen. Laut der gleichen Umfrage halten dreissig Prozent der befragten UngarInnen Jobbik für eine extremistische Partei.

Ungarische SoziologInnen halten die sogenannte Zigeunerkriminalität für eine Erfindung. Der kürzlich veröffentlichte Jahresbericht der Generalstaatsanwaltschaft zeigt, dass die Gesamtzahl der Straftaten seit zehn Jahren zurückgeht. Die Zahl der Morde lag so niedrig wie zuletzt vor 43 Jahren. Eine Zunahme verzeichnet die Statistik jedoch bei der Jugend- und der Wirtschaftskriminalität sowie bei Betäubungsmitteldelikten und rechtsextremen Straftaten.

Ein Grossteil der Morde an Roma ist bisher nicht geklärt. Allerdings gehen die ErmittlerInnen davon aus, dass es sich bei mehreren Fällen um die gleichen TäterInnen handelt: eine kleine Gruppe, bestehend aus vier bis fünf Personen mit militärischer Erfahrung und rechtsextremem Hintergrund.

Keno Verseck