Das Rütli gehört allen

TagesAnzeiger

Von David Schaffner

Zum ersten Mal seit langem ging der bekanntesten Bundesfeier der Schweiz kein monatelanger Streit voraus. Keine Fernsehstation konnte Bilder von johlenden Rechtsradikalen ausstrahlen, wie sie am 1. August immer wieder um die halbe Welt geflimmert waren. Kaum ein Rechtsextremer versuchte gestern überhaupt, auf das Rütli zu kommen.

Das ist gut so. Dennoch sollte die Öffentlichkeit nicht akzeptieren dass die Rütlifeier auch in Zukunft der gemütliche und unbedeutende Anlass von gestern bleibt. Die Schweiz ist kein Land, das reich ist an symbolischen Stätten. Im Gegenteil: Das Rütli ist der einzige Ort, der den nationalen Mythos verkörpert und die verschiedenen Teile des Landes verbindet. Deshalb hat die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft die Wiese im 19. Jahrhundert gekauft, dem Bund übertragen und damit dem ganzen Volk ein Geschenk gemacht.

Eine Feier für den inneren Zusammenhalt

In Zukunft muss das Rütli am 1. August wieder eine Botschaft ausstrahlen, die über den Kanton Uri hinausreicht und mehr Menschen in ihren Bann zieht als die knapp 500 Personen, die gestern anreisten. Für den inneren Zusammenhalt braucht jedes Land seine Symbole, selbst wenn sie nur auf Mythen beruhen (TA vom 31. Juli). Wann sonst als am Nationalfeiertag soll der Geist des Rütli in Erinnerung gerufen werden? Immerhin geht es um den Willen zur nationalen Einheit über die kulturellen Grenzen und Differenzen hinweg. Um jenen Willen, der die Schweiz überhaupt zu einer Nation macht. Im politischen Schlagabtausch des Alltags zeigen sich die Bruchstellen dieser Identität oft genug.

Hinzu kommt, dass viele lokale Bundesfeiern in den Gemeinden kein grosses Publikum mehr anziehen. In der Schweiz gibt es immer mehr Menschen, die nicht an jenem Ort leben, in dem sie aufgewachsen sind. Sie sind in ihrer Wohngemeinde wenig verwurzelt und interessieren sich kaum für die lokale Politik. Den Bundesfeiern bleiben sie fern, weil sie die Namen der Redner nicht einmal kennen. Der Nationalfeiertag verkommt zu einem blossen Ferientag. Mit der Situation der Schweiz, ihren Problemen und Chancen setzen sich am 1. August nur wenige auseinander. Für ein Land, das sich gerne als beste Demokratie der Welt sieht, ist dies ein bedauerlicher Befund.

Um am 1. August auch die Massen wieder zu erreichen, braucht es eine Feier, die im Gegensatz zu allen anderen schweizweite Beachtung findet. Als Redner sind nationale Grössen aus der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gefragt. Es stimmt zwar, dass die Rütlifeier vor zwanzig Jahren noch keinen nationalen Stellenwert hatte. Die Medienpräsenz der vergangenen Jahre sowie der gesellschaftliche Wandel haben ihr diese Ausstrahlung jedoch verliehen. Mit dem gestrigen Anlass hat man der Feier die Bedeutung künstlich genommen.

In der Stille auf dem Rütli untergegangen ist überdies, dass sich die Kantone dieses Jahr letztlich vor den Rechtsextremen geduckt haben. Diese unheimlichen Patrioten haben es zu verantworten, dass die Rütlifeier zu einem Problemfall wurde. Mit ihrem Pöbeln und Skandieren haben sie die freie Rede immer wieder im Keim erstickt. Selbst SVP-Bundesrat Samuel Schmid haben sie vor drei Jahren niedergeschrien.

Viele Innerschweizer glauben nun, dass sich diese Störenfriede ruhig verhalten, wenn keine bekannten Personen mehr auftreten. Doch die Pnos und ihre Verbündeten marschierten nur wegen der hohen Sicherheitsvorkehrungen, des Billettsystems und des eingeschränkten Schiffsverkehrs nicht auf.

Rechtsextreme wollen Nationalwiese

Wäre der Zugang aufs Rütli offen, hätten sie auch den gestrigen Redner ausgebuht. Auch wenn der Urner Regierungsrat Josef Dittli national kaum bekannt ist. Mit dem Aufruf, morgen Sonntag aufs Rütli zu pilgern, haben die Rechtsextremen klargemacht, dass sie ihren Anspruch auf die Nationalwiese nicht aufgeben. Es geht ihnen ums Rütli, nicht um die Redner. Eine Feier ohne Absperrung und Tickets wird es auch künftig nicht geben.

Deshalb kann der Anlass, so wie er gestern über die Bühne ging, nur eine Verschnaufpause sein. Der Krach um den Auftritt der damaligen Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey im Wahljahr 2007 hatte derart hohe Wellen geworfen, dass ein Jahr ohne Skandal unumgänglich war. Nun sind die Wellen geglättet. Die Verantwortlichen können einen Neustart wagen. Wenn es zum Schutz der freien Rede schon Polizisten braucht, dann soll diese Rede wenigstens im ganzen Land gehört werden.

Die neue Präsidentin der Gemeinnützigen Gesellschaft, Annemarie Huber-Hotz, hat die Aufgabe, für das Jahr 2009 ein neues Konzept vorzulegen. Sie muss mit den Innerschweizer Kantonen und dem Bundesrat zusammensitzen und um eine Lösung ringen. Huber-Hotz ist die richtige Person dafür. Sie stammt aus der Innerschweiz und hat als ehemalige Bundeskanzlerin die besten Beziehungen nach Bern.

Dem Bundesrat muss Huber-Hotz verständlich machen, dass die Schweiz am 1. August eine Feier braucht, die ein breites Publikum erreicht. Die Regierung sollte dazu verpflichtet werden, jedes Jahr eines ihrer Mitglieder aufs Rütli zu schicken. Das Gremium darf sich nicht wie früher aus der Affäre schleichen und die Feier zur persönlichen Angelegenheit eines einzelnen Bundesrates erklären. Die Wiese ist schliesslich Eigentum des Bundes.

Den Innerschweizern sollte Huber-Hotz klarmachen: Sie können nicht jeden Tag die Augen vor all jenen Spannungen verschliessen, die das Land und ihre Zentren immer wieder auf die Probe stellen. Nicht immer eskalieren diese gesellschaftlichen Auseinandersetzungen wie am 1. Mai in Zürich oder vor bestimmten Abstimmungen in Bern. Das wichtigste nationale Symbol auf Innerschweizer Boden zu haben, ist eine Verpflichtung: Am Nationalfeiertag soll das Rütli, wie das ganze Jahr über, dem ganzen Volk gehören.