Irving-Prozess / Der britische Historiker David Irving ist weltweit der bekanntesteLeugner der Judenvernichtung. Mit einer Klage gegen die amerikanische Buchautorin Deborah Lipstadt und ihren Verlag hat er erreicht,dass seine Thesen erneut weltweit verbreitet werden. Die Beweislast tragen die Beklagten. Zahlreiche renommierte Historiker treten fürsie in den Zeugenstand.
Autor: Eva Burke, London
Hohe Bücherstapel füllen die Regale im Gerichtssaal 73 der Royal High Courts in London. Seit drei Monaten dienen sie alsBeweismaterial für einen Prozess, der in seiner weit reichenden Bedeutung und aufgrund seiner tief schürfenden Aufarbeitung derGeschichte des Zweiten Weltkriegs einmalig ist.
«Revisionist und Lügner»
David Irving, ein ehemals renommierter, wenn auch kontroverser Historiker, hat die amerikanische Akademikerin Deborah Lipstadt unddas Verlagshaus Penguin Books wegen Verleumdung eingeklagt. Irvings Bücher – unter vielen anderen «Hitler’s War» und «Goebbels» -,die gut recherchiertes Material enthalten, aber gleichzeitig wesentliche geschichtliche Fakten des Holocausts leugnen, hatten 1993 dieamerikanische Professorin veranlasst, in ihrem Buch «Die Verneinung des Holocausts» Irving als Revisionisten und Lügner zubrandmarken.
Beweislast bei Beklagten
Irving behauptet nun, Lipstadts Buch und die darauf folgende negative Presse hätten ihn um weitere Buchaufträge und um den Grossteilseines Lebensunterhalts gebracht.
Bei einer Verleumdungsklage in England tragen die Beklagten die Beweislast. So obliegt es in diesem Fall dem Penguin-Verlag undDeborah Lipstadt zu belegen, dass Irvings Geschichtsbild fehlerhaft ist und auf willkürlich und absichtlich manipulierten Fakten beruht.Zudem müssen sie nachweisen können, dass Irving die Quellen, die zur Verfügung standen, als er seine Abhandlung verfasste,weitgehend ausser Acht gelassen hat.
Gefahr für die Forschung
Fünf Jahre hat sich die Verteidigung auf den Prozess vorbereitet. Enorme Mengen von Archivmaterial wurden durchforstet, und mehrererenommierte Holocaustexperten und Professoren für Moderne Geschichte wurden beauftragt, neue Berichte zu verfassen undUntersuchungen durchzuführen, um dem Gericht ein umfassendes und ausgeglichenes Bild des Holocausts vorzulegen. Richter CharlesGray – wegen der delikaten Angelegenheit wurde ausnahmsweise auf die sonst übliche Jury verzichtet – soll überzeugt werden, dass Irvingzu Recht als Holocaustleugner bezeichnet wurde. Es steht viel auf dem Spiel. Sollte Irving den Prozess gewinnen – was unwahrscheinlichist -, würde dies der Holocaustaufklärung grossen Schaden zufügen. In Frage gestellt wären künftig auch historisch-wissenschaftlicheMethoden, die Nutzung der Schilderungen von Augenzeugen beispielsweise. Rechtsextremistische Gruppen, die sich auf die Rhetorik vonHolocaustleugnern stützen, erhielten Auftrieb.
Überzeugter Leugner
David Irving ist ein stattlicher und in seinem Auftreten fast militärisch wirkender 62-jähriger Mann. Er hat an einer renommiertenenglischen Universität studiert, es aber nie zur Abschlussprüfung gebracht. Geraume Zeit hat er in Deutschland als Stahlarbeiter verbracht,um die Sprache zu lernen.
Seit den Achtzigerjahren leugnet er, dass Hitler den Plan zur systematischen Vernichtung der Juden gefasst hatte. Er verneint auch dieExistenz der Gaskammern, in denen Juden zu Hunderttausenden getötet wurden, und bezeichnet die Zahl von sechs Millionen Juden, dieim Holocaust umgekommen sind, als viel zu hoch.
David Irving vertritt seine Klage selber vor Gericht. Dies lässt vermuten, dass er von seinem Standpunkt vollkommen überzeugt ist, esihm aber auch Vergnügen bereitet, diesen zu verteidigen. Schon lange ist Irving nicht mehr ein solch unablässiges und hohesMedieninteresse beschieden gewesen wie im Zusammenhang mit diesem Prozess; und noch nie standen ihm seriöse Historiker in sogrosser Zahl zur Verfügung, wie sie ihm jetzt im Zeugenstand Rede und Antwort zu stehen haben.
Die Verteidigung, eines der angesehensten Anwaltbüros Londons, stellt ihrerseits ein beachtliches Aufgebot an Juristen, Fachberatern,Historikern und Experten für Neonazi-Bewegungen zur Verfügung.
Van Pelt, ein junger holländischer Architekturhistoriker, der heute an einer kanadischen Universität lehrt und der polnischen Regierung beider Restauration des Konzentrationslagers Auschwitz behilflich war, erklärte dem Gericht während mehrerer Stunden die Mechanik derGaskammern. Der mit Lichtbildern illustrierte Bericht über die von den Nazis entworfenen Pläne für die Gaskammern, den Van Pelt mitder Chronologie des dort Geschehenen ergänzte, versetzten das Gericht zurück in die Jahre des Holocausts. Grauenhafte Einzelheiten überdie Entkleidungsräume, über die Öfen, über den überwältigenden Gestank und über das Liftbrett mit den aufgehäuften Leichnamen liessendas Publikum im Gerichtssaal erschauern – nicht aber Irving. Ohne Zögern bezeichnete er die Pläne als Skizzen für Luftschutzkeller.
Die dokumentierten Zeugenaussagen über die Todesmaschinerie in Auschwitz sind für ihn «Phantasievorstellungen». Die Gaskammern,behauptet er, seien von den Polen nach dem Krieg als Touristenattraktion errichtet worden. Van Pelt verweist auf dokumentierteKaufanordnungen für das tödliche Giftgas Zyklon B. Dieses, so sagt Irving, sei für Entlausungsaktionen zur Bekämpfung von Epidemienund nicht für die Vergasung von Juden benutzt worden. Sogar Richter Gray schien bestürzt zu sein.
In seiner Aussage gibt Professor Van Pelt zwar zu, dass es heute unmöglich sei, die Anlagen nach «zweckbestimmten (für das Zyklon Bvorgesehenen) Einfülllöchern zu untersuchen, da diese zu lange dem Wetter ausgesetzt waren». Schon ist Irving in seinem Element. Dadies heute nicht nachweisbar sei, habe es also auch nie eine Vergasung gegeben, meint er mit triumphierender Genugtuung. Für Irvingwäre damit die «Auschwitz-Lüge» wieder einmal blossgestellt. Ausser Acht lässt Irving eine ganze Fülle von zwingenden Beweisen, dieVan Pelt und der amerikanische Professor Christopher Browning dem Gericht vorlegen. Die beiden berufen sich auf Dutzende andererHistoriker, sie haben aber auch selbst mehrere Bücher zum Thema veröffentlicht. Die Wahrheit der Vergasung von knapp einer MillionJuden in Auschwitz alleine könne nicht angezweifelt werden, so fasst Van Pelt seine Untersuchungen zusammen.
Auch den Wortlaut der Wannsee-Protokolle von 1942, der Schlegelberger Notizen und vieler anderer im Gericht untersuchter Dokumente,etwa solcher aus der Feder von Heydrich oder Himmler, will Irving ganz anders als der aus Deutschland stammende Peter Longerichverstehen. Eindeutig ist laut Longerich – der heute Moderne Geschichte an der London University lehrt – mit den euphemistischenFormulierungen der Nazi-Grössen die Judenvernichtung gemeint. Irving versteift sich aber auf seine eigene Auslegung, welche dieDokumente verharmlost. Die Worte «Umsiedlung (der Juden) nach dem Osten» etwa übernimmt Irving als bare Münze, obwohlMeldungen und Tagebucheintragungen von Naziführern, welche die Vernichtung dieser «umgesiedelten» Juden belegen, vorhanden sind.
700 Seiten Expertenbericht
Professor Evans, der an der Universität Cambridge doziert und heute international als einer der massgebendsten Historiker für ModerneGeschichte gilt, legt dem Gericht einen Expertenbericht vor, der mit seinen über 700 Seiten das eigentliche Kernstück der Verteidigungausmacht. Während rund zweier Jahre hatte Evans mit Hilfe von Forschungsassistenten in minutiöser Kleinarbeit und nach mehrerenBesuchen in deutschen Archiven und Bibliotheken die Schriften, Filme, Sendungen und Vorträge von Irving durchkämmt. Punkt fürPunkt, Fussnote für Fussnote, Auftritt für Auftritt werden sie in der Untersuchung widerlegt. Bei der Besprechung des Evans-Reports,der oft in scharfe Auseinandersetzungen zwischen Ankläger und Verteidiger mündet, entwickelt sich der Prozess zu einem derspektakulärsten Gerichtsverfahren in der modernen Geschichte.
Erschwert wird es durch die Tatsache, dass in gewissen Gebieten der Holocaustforschung Dokumente relativ dünn gesät sind – ein grosserTeil des Materials ging verloren oder wurde zerstört. Überdies geschah auch vieles, das laut Historikern gezielt nicht dokumentiert undlediglich mündlich angeordnet wurde.