Der Bund. Mit dem N-Wort angesprochen oder angespuckt: Struktureller Rassismus ist alltäglich. Auch am Gurtenfestival soll es zu diskriminierenden Übergriffen gekommen sein.
Überall waren die Slogans zu sehen, gross und gelb, etwa auf den riesigen Bildschirmen neben der Hauptbühne. Respect, Diversity, Love. «Wir wollen vermeiden, dass es im Rahmen des Gurtenfestivals zu Vorfällen von Sexismus, Rassismus oder anderen Formen von Diskriminierung kommt», so die Veranstalter auf der Website.
Dies war offenbar nicht möglich. So berichtet das Kollektiv von Café Révolution von Rassismus und Gewalterfahrungen am Festival, die die Grenze des Zumutbaren überschritten hätten. Der Verein setzt sich ausgerechnet gegen Rassismus ein, ihm wurde dieses Jahr die Becherspende vergeben: Besucherinnen und Besucher konnten dem Kollektiv das Depot von Bechern oder Geschirr überlassen. Damit unterstützten sie das Projekt «Black futures» – eine Reihe von Veranstaltungen im Café Révolution im Progr.
Bisher keine Anzeigen
Im Vorfeld habe das Kollektiv mit übergriffigem und diskriminierendem Verhalten gerechnet, teilt es auf Instagram mit. Das Ausmass dessen habe aber ihre Erwartungen überstiegen. «Wir können es nicht mit gutem Gewissen verantworten, ein Team von schwarzen und schwarz gelesenen Menschen dem auszusetzen, und haben uns deshalb entschieden, keinen Stand mehr zu haben», so das Kollektiv auf Instagram – nach nur der Hälfte des Festivals. Bereits am Samstag war die Ecke im Foodzelt, in der sie benutztes Geschirr entgegengenommen hatten, wieder komplett leer.
Doch was war genau geschehen? Mehr zu den Vorfällen wollen auf Anfrage weder das Kollektiv noch das Gurtenfestival sagen. Beide verweisen auf ihre Statements, die sie bereits am Wochenende abgegeben haben. Bei der Kantonspolizei Bern seien bisher im Zusammenhang mit dem Gurtenfestival keine Meldungen zu mutmasslichen rassistischen Vorkommnissen eingegangen, so die Medienstelle.
Auf der Website bedauert das Gurtenfestival, dass sich das Kollektiv gezwungen sah, die Sammelaktion abzubrechen – ausgerechnet «wegen der rassistischen Denk- und Handlungsweisen, gegen die sie kämpfen». Die Geschehnisse hätten das Gurtenfestival-Team «zutiefst» erschüttert. «Wir müssen feststellen, dass wir als Gesellschaft nicht dort sind, wo wir sein sollten.»
Rassismus in der Kultur
Überrascht sind Expertinnen und Experten indes nicht. «Menschen, die schwarz sind oder als schwarz gelesen werden, leben tagein, tagaus mit strukturellem Rassismus», sagt etwa Stephanie Graetz, Geschäftsleiterin der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus. Die Stiftung überwacht und erfasst schweizweit rassistische und antisemitische Vorfälle, die von den Medien aufgegriffen werden, und beobachtete 2022 einen hohen Anteil an verbalem Rassismus im öffentlichen Raum.
Warum gleichzeitig am Festival schwarzen Künstlerinnen und Künstlern wie Pongo oder Rema zugejubelt werde, sei eine komplexe Frage. «Ich vermute, auf der Bühne werden Darbietungen gefeiert – da geht es um Talente, um Fähigkeiten, die als Unterhaltung unabhängig von der Hauptfarbe betrachtet werden», sagt Graetz. «Aber im Alltag fallen wir oft auf Stereotype zurück, die nach wie vor unsere Denkweisen prägen.»
Zwei Menschen haben die mutmasslichen Übergriffe am Gurtenfestival bereits «Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus» (Gggfon) im Kanton Bern gemeldet – das Informations- und Beratungsangebot führt unter anderem eine Meldestelle für rassistische Vorfälle. Mehr darüber, was geschehen ist, weiss auch Leiter Giorgio Andreoli nicht. Die Vorwürfe erstaunen ihn aber nicht: Ein solches Festival sei schliesslich ein Abbild der Gesellschaft. «Und wir hören auch im Alltag von krassen Fällen, dass jemand etwa mit dem N-Wort angesprochen oder gar angespuckt wird.» Subtilere Formen, fügt er hinzu, würden oft gar nicht gemeldet.
Im letzten Jahr hat Gggfon insgesamt über 220 Vorfälle im Kanton Bern registriert, wobei knapp sieben Prozent der Vorfälle in der Freizeit oder im Ausgang stattfanden. «Bis zu diesem Jahr hatten wir keine Meldungen vom Gurtenfestival», so Giorgio Andreoli.
Kritik der Künstlerinnen
Und nun, wie weiter? In einem offenen Brief vor drei Jahren haben über 50 schwarze Künstlerinnen und Künstler die Abwehrreaktionen bei kulturellen Institutionen in der Schweiz kritisiert, wenn sie rassistische Erfahrungen ansprachen. «Gewaltsame Übergriffe haben nicht abgenommen, seit Diversität in den letzten Jahren in der Kunst- und Kulturwelt zu einem erstrebenswerten Standard geworden ist», schrieb die Gruppe.
Wird das auch beim Gurtenfestival so sein? Laut Statement will sich das Team weiterhin dafür einsetzen, dass das Festival ein inklusiver Raum sei, in dem jeder Mensch respektiert werde. Vor Ort würden weiterhin nicht verhandelbare Grundsätze strikt eingehalten. Und: Bis zum Schluss des Festivals konnte weiterhin bei den offiziellen Rücknahmestellen Becher und Geschirr für Café Révolution gespendet werden.