Waston. Die Anastasia-Bewegung breitet sich in Deutschland aus. Hinter einer harmlos anmutenden Öko-Fassade versteckt sich rechtsextremes Gedankengut – und die Verehrung von Wladimir Putin.
Zurück zur Natur, her mit dem einfachen Landleben, weg mit der Hightech-Gesellschaft und all ihrer Elektronik: Für viele Menschen klingen diese Ideen verlockend. Und immer mehr setzen sie in die Tat um, ziehen aufs Land, verwirklichen sich im heimischen Garten – oder steigen gleich ganz aus der Gesellschaft aus und gründen Öko-Kommunen.
Auch eine relativ neue Bewegung, die ihre Wurzeln in Russland hat, verfolgt einen solchen Lebensansatz. Ihr Name: Anastasia-Gemeinschaft.
Ihre Anhänger leben ohne technische Geräte auf sogenannten Familienlandsitzen, wo sie sich autark versorgen. Doch was zunächst klingt wie der wahrgewordene Aussteiger-Traum, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als Hort antisemitischer, völkischer und homophober Gedanken.
Was wollen die Anhänger der Anastasia-Bewegung? Ist die Szene gefährlich? Und was hat das alles mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu tun?
Der Idee der Anastasia-Bewegung liegt die zehnteilige Buchreihe «Anastasia – Die klingenden Zedern Russlands» des russischen Schriftstellers Waldimir Megre (Jahrgang 1950) zugrunde. Darin berichtet der Icherzähler, wie er bei Wanderungen durch die sibirische Taiga auf die Fantasiegestalt Anastasia trifft – die Megre allerdings so beschreibt, als sei sie real.
Megre zufolge ist Anastasia eine junge, blonde Frau. Sie habe übernatürliche Fähigkeiten, darunter einen Heilstrahl, mit dem sie auch schwere Verletzungen heilen kann. Der Erzählung zufolge lebt sie in den Wäldern Sibiriens und ernährt sich von Früchten und Gemüse. Laut Megres Büchern ist Anastasia die gottähnliche Botschafterin der fiktiven Urkultur der «Wedrussen», deren Nachkommen noch heute in Russland leben würden.
Klingt erst einmal harmlos, ist es dem Experten Matthias Pöhlmann zufolge aber nicht. «Die Anastasia-Bücher sind eindeutig antisemitisch», erklärt Pöhlmann, der sich als Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen bei der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern schon länger mit der Anastasia-Bewegung beschäftigt. Unter anderem erzähle Anastasia dem Icherzähler in den Büchern von einer Gruppe levitischer Priester, die die Geschicke der Welt kontrollieren. «Die klassische Erzählung der angeblichen jüdischen Weltverschwörung», so Pöhlmann im Gespräch mit t-online.
Noch deutlicher wird das an anderer Stelle, wo der Autor Wladimir Megre den Holocaust erklärt. Die Juden seien demnach selbst schuld an ihrer Verfolgung, da sie «Verschwörungen gegen die Macht anzetteln». In der Buchreihe repräsentieren Juden immer wieder «das Böse», «die Moderne», «die Demokratie» und ominöse «Dunkelmächte», analysiert auch die Autorin Kira Ayyadi die Buchreihe in einem Artikel für «Belltower News».
Ausserdem beschreibt Megre in den Anastasia-Büchern eine Anleitung zur Ausflucht aus der modernen Gesellschaft: die Gründung sogenannter Familienlandsitze, auf denen Familien unter einem männlichen Oberhaupt autonom leben, sich vegetarisch ernähren und eine kritische Haltung gegenüber der modernen Technologie und der offenen Gesellschaft vertreten. Diese Ideen nahm sich die entstehende Anastasia-Bewegung zum Vorbild.
2010 beendete Wladimir Megre seine zehnteilige Buchreihe, die zunächst in Russland grossen Erfolg hatte. Seitdem gründeten immer mehr Menschen die in den Büchern beschriebenen Familienlandsitze. 700 dieser Güter soll es im Jahr 2011 in Russland gegeben haben, erklärt Matthias Pöhlmann in seinem «Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen».
Durch die ersten Übersetzungen der Anastasia-Bücher kam die Bewegung zu Beginn der 2010er-Jahre nach Deutschland. Auch hier gründeten sich «Familienlandsitze» – schwerpunktmässig in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Bayern. Die Anhänger leben dort unter sich und kapseln sich vom Rest der Gesellschaft ab.
«Die eine Anastasia-Bewegung gibt es nicht», erklärt Laura Schenderlein vom Brandenburgischen Institut für Gemeinwesenberatung demos, im Gespräch mit t-online. Die Anastasia-Szene sei dezentral organisiert, allerdings sei das Ziel der meisten regionalen Kleingruppen der komplette Ausstieg aus der Gesellschaft und die explizite Abgrenzung vom demokratischen Umfeld.
In ganz Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 20 Familienlandsitze. Allerdings trete die Bewegung vor allem durch Kontakte und Umfeldorganisationen in der Öffentlichkeit in Erscheinung, erklärt Matthias Pöhlmann. Zwar haben diese Familienlandsitze weniger als 100 Mitglieder, auf Anastasia-Festivals – etwa im Jahr 2020 – kommen allerdings mehr als 800 Menschen zusammen. Wie der «Merkur» im März 2023 berichtet, sind die deutschsprachigen Anastasia-Kanäle auf Telegram mittlerweile auf mehr als 250’000 Mitglieder angewachsen.
«Auf den ersten Blick wirken die einzelnen Gruppierungen nicht gefährlich», sagt Laura Schenderlein. «Allerdings vertreten die einzelnen Kleingruppen häufig rechte bis rechtsextreme Ansichten». Die Anastasia-Ideologie sei ausserdem keine Idee, die den kurzfristigen Umsturz des existierenden Systems plane. «Sie ist auf mehrere Jahrhunderte, sogar auf Jahrtausende ausgelegt», so Schenderlein.
Neben den Familienlandsitzen sei der Aufbau von Kontakten in die rechtsesoterische Szene ein wichtiger Baustein für das Wachstum der Anastasia-Ideologie, erklärt Matthias Pöhlmann. Es gebe seit einigen Jahren zum Beispiel enge Kontakte zu Martin Laker, dem Gründer der «Akademie Engelsburg». Laker ist eine einflussreiche Figur in der deutschen rechtsesoterischen Szene. Auf seinem Telegram-Kanal mit über 45’000 Abonnenten hilft er dabei, den Kontakt zwischen Interessierten und etablierten Anastasia-Landsitzen herzustellen.
«Die Bewegung wird häufig unterschätzt», sagt auch Experte Pöhlmann. «Von aussen interpretiert man Anastasia häufig als alternative Ökos, die einfach ihr Ding machen». Allerdings sei das Weltbild der einzelnen Kleingruppen von völkischen und antisemitischen Gedanken durchzogen.
Wladimir Putin hat der Anastasia-Bewegung im Jahr 2016 gehörig Aufwind verschafft. Damals erliess der russische Präsident ein Gesetz, laut dem Russen im Fernen Osten, einer abgelegenen Region in Russland, gratis bis zu einen Hektar Land erwerben können.
Die Lokalregierungen gaben den Anastasia-Anhängern bereitwillig Land für ihr Vorhaben, auch der ehemalige russische Präsident Dmitri Medwedew unterstützte die Bewegung. Im Gegenzug rief der Anastasia-Autor Wladimir Megre seine Anhänger immer wieder zur Wahl Putins auf.
Auch ideologisch ist Putin für die Anastasia-Bewegung wichtig, erklärt Pöhlmann. «Er bedient die russische Seele», sagt der Experte. Damit meint er die Rückbesinnung auf das Leben inmitten der Natur, abseits von modernen technologischen und gesellschaftlichen Errungenschaften. «Dieses sogenannte Wedrussentum ist die DNA der Anastasia-Bewegung», fährt Pöhlmann fort. «Ihre Anhänger sehen in Putin vor allem einen Garanten gegen die ‚westliche Dekadenz’».
Der Staat weiss zumindest von der Existenz der Anastasia-Bewegung. Allerdings ist sie kein Beobachtungsobjekt des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Lediglich in Bayern schaut der Inlandsgeheimdienst genauer hin – denn dort liegt einer der Schwerpunkte der Bewegung.
So versuchten Anastasia-Siedler in Prien am Chiemsee, eine Schule aufzubauen, die sich an der von den Anastasia-Romanen propagierten Schetinin-Pädagogik orientiert. So berichtet unter anderem der Blog «Allgäu Rechtsaussen», dass Kinder an den Schulen völkisches Gedankengut indoktriniert bekämen, das Rechercheportal «Psiram» berichtet von einem sogenannten «Lernen für Russland», bei dem die Ausrichtung an der Anastasia-Ideologie eine grosse Rolle spiele.
Ob der Kreis der Anastasia-Anhänger derzeit zunimmt, ist Laura Schenderlein zufolge schwer zu sagen. «Wegen der medialen Aufmerksamkeit in den letzten Jahren haben sich Teile der Anastasia-Aktivitäten in den Untergrund verlagert», erklärt sie. Deshalb könne man nicht mehr so offen innerhalb der Bewegung recherchieren. «Aber abgenommen haben ihre Aktivitäten nicht.»