Megafon. Elf Millionen Bücher hat der russische Autor Vladimir Megré bereits verkauft. Die zehn Bände umfassende Buchreihe über seine Begegnungen mit der Lichtgestalt Anastasia wurden im Zeit-raum von 1996 bis 2010 veröffentlicht und haben nach wie vor eine begeisterte Leser*innenschaft – trotz stellenweise offenem Antisemitismus und rassistischen Formulierungen. Ich habe mit einem Mitglied des Recherchekollektivs «Farb und Beton» (im Text nenne ich sie die Betonmalerin), welches aktuell zu der Anastasia-Bewegung in der Schweiz recherchiert, gesprochen.
Bisher war die Anastasia-Bewegung in der Schweiz öffentlich kaum bekannt. Völkische, rechts-esoterische Bewegungen kannte mensch vor allem aus Deutschland, wo die Reichsbürger:innen im Zuge der Covid-19-Proteste immer wieder in den Medien präsent waren. «Esos (1)» und «Hippies» waren zwar auch hierzulande an den Coronaprotesten beteiligt – deren Verbindungen in die völkische, rechtsextreme Szene wurde aber in den Massenmedien kaum thematisiert. Als am 22. Januar 2022 Neonazis der Gruppierungen «Junge Tat» und «Nationale Aktionsfront» eine Anti-Massnahmen-Demo angeführt haben, wurde bestenfalls die fehlende Distanzierung der üb-rigen Demoteilnehmenden von den beiden Gruppierungen und deren Gedankengut kritisiert. Direkte Verbindungen der Verschwörungserzählenden in die rechtsextreme Szene schienen ausgeschlossen zu sein. Obwohl die Bewegung in der Mitte der Gesellschaft längst Fuss gefasst hat, haben Medien und Politik lange geschwiegen. Diesen Sommer hat sich diese Wahrnehmung zumindest ein Stück weit geändert: Mit der Gründung von Privatschulen in mehreren Kantonen hat die Anastasia-Bewegung einen Schritt in Öffentlichkeit gemacht. Mit diesem Eindringen in das Bildungswesen der Anastasia-Bewegung wurde die längst überschrittene rote Linie aufgezeigt und ist endlich auf dem Radar der Öffentlichkeit erschienen.
Lichtgestalt – mit Schatten
Anastasia, die fiktive Protagonistin der Anastasia-Buchreihe, ist eine junge Frau, die in der russischen Taiga lebt. Laut Megré gehört sie den Wedruss*innen an, einem alten Naturvolk, für dessen Existenz es keine historischen Belege gibt. Anastasias Zugehörigkeit zu diesem Volk ist jedoch zentral für Megrés esoterische Welttheorie: Diese besagt, dass russische, europäische und amerikanische Völker von den Wedruss*innen abstammen. Das wedrussische Blut soll demnach reingehalten werden und muss unbedingt vor den durch Jüd*innen verbreiteten Krankheiten und Kriegen geschützt werden. Anastasia lebt in Einklang mit der Natur und kann mit Tieren und Pflanzen sprechen. Anhänger*innen der Bewegung würden Anastasia als ihre Leitfigur sehen, erzählt die Betonmalerin. Sie glaubten daran, übernatürliche Kräfte zu erlangen, wenn sie die Lebensweise, die ihnen Anastasia vorlebt, übernehmen würden. Die Anastasia-Ideologie sei ein Lebenskonzept, bestimme die Lebens- und Denkweise der Anastasianer*innen in umfassender Art und Weise. So existierten etwa Regeln, wie sich Anastasianer*innen kleiden sollen, wie sie gebären sollen und mit wem sie sexuelle Verhältnisse eingehen dürfen. Auch Medizin und Gesundheit sind Teil der Ideologie; es bestehen genaue und zum Teil höchstproblematische Vorstellungen davon, wie sich Krankheiten verbreiten und wie mensch sich davor schützen kann. Im zweiten Band der Anastasia-Buchreihe werden als Hauptursachen für Krankheiten «negative Gefühle und Emotionen, eine unnatürliche Ernährungsweise […], das Fehlen von Nah- und Fernzielen sowie falsche Vorstellungen von sich selbst und der eigenen Bestimmung» genannt. Als «natürliche» Ernährung betrachtet Anastasia den Rohveganismus – es sind Fälle bekannt, bei denen Anastasianer:innen diese Form der Ernährung ihren Kindern vorgesetzt haben und diese zum Teil lebensbedrohliche Mangelerscheinungen erlitten haben – dies als Beispiel dafür, dass Anastasianer:innen, ihrer Ideologie zuliebe, grosses Leid in Kauf nehmen oder gar forcieren.
«Historiker*innen sagen, Hitler sei schuldig»
Die Anastasia-Ideologie steckt voller kruder Verschwörungsmythen. So schreibt Wladimir Megré, dass «[…] die wahren geschichtlichen Ereignisse jeder sehen könne, der nur etwas aus dem hypnotischen Traum der Jahrtausende erwache und läse, wie und wodurch das jüdische Volk kodiert und in ein priesterliches Heer verwandelt worden sei.» Anastasia habe diese «kodierten Jüd*innen» durchschaut und stelle sich gegen diese Verschwörung. Megré argumentiert, dass die Jüd*innen schuldig sein MÜSSEN – ansonsten wäre es seiner Ansicht nach nie zu den Jüd*innenverfolgungen und Pogromen gekommen. Aus der schon mehr als ein Jahrtausend andauernden Geschichte des Antisemitismus könne man den Schluss ziehen, dass «das jüdische Volk vor den Menschen Schuld hat», schreibt er. Nach Megrés Logik sei demnach die «Annahme der Historiker*innen», dass Hitler schuldig sei, ein Fehlschluss: Hitler sei nur einer von vielen Herrschern, der «gezwungen war, die Juden zu vertreiben». Dieser explizite Geschichtsrevisionismus (2) und offensichtliche Antisemitismus sind zentrale Bestandteile des Anastasia-Kultes. Trotzdem wird die Bewegung, auch dank ihres ökologisch-esoterischen Auftretens, oft als apolitisch inszenierte Gemeinschaft verharmlost.
Wissen ohne Lernen
Die Bildung hat im Anastasia-Kult einen hohen Stellenwert. Es wurden zwar erst zu sechs Schweizer Privatschulen Recherchen veröffentlicht, die nach den Prinzipien der Schetinin-Pädagogik Unterricht erteilen und in Verbindung mit der Anastasia-Bewegung stehen. Tatsäch-lich gebe es bedeutend mehr solche Schulen, erzählt die Betonmalerin; allein im Kanton Zürich seien es mindestens sechs. Diese Schulen seien vor allem problematisch, da die Kinder so noch mehr in diesem close-up System gefangen würden und kaum mehr die Möglichkeit hätten, andere Kontakte zu haben. Wenn also diese Kinder schon braun indoktriniert würden, sei es schwierig sie später in das demokratische System zurückzubringen. Es ist zudem äusserst fraglich, inwiefern den Kindern in diesen Schulen das Recht auf Bildung gewährleistet wird: «Oftmals sind gar keine Lehrpersonen vor Ort» meint die Betonmalerin. «Die Anastasianer*innen gehen davon aus, dass den Kindern Wissen zufliegt, sie es durch Osmose aufnehmen können und daher Lernen im klassischen Sinne völlig überflüssig ist.»
Blut und Garten
Megré beschreibt den Beginn der Technologisierung als Anfang eines dunklen Zeitalters. Dieser Glauben an dunkle Kräfte bildet einen Grundstein der Anastasia-Ideologie: Sie legitimiert die Ablehnung moderner Zivilisation und die gleichzeitige Romantisierung der Natur. Daher kommt auch das Konzept der Familienlandsitze – einer Art Öko-Kommunen, die von den Anastasianer*innen als ideale Siedlungsform angesehen werden. Rund 300 Landsitze gibt es in Russland bereits, wobei die Gründung solcher Kommunen vom russischen Staat zum Teil aktiv unterstützt wurde. Putin sieht darin eine Möglichkeit, schwach besiedelte Regionen zu beleben und hat deshalb einigen Gemeinschaften gratis Land zu Verfügung gestellt – natürlich mit der Erwartung einer Gegenleistung in Form politischer Unterstützung. Die Anastasianer*innen sind jedoch nicht nur in Russland aktiv, auch in Deutschland gibt es rund 20 Landsitze. In der Schweiz sind es zwar erst zehn. Der Verein familienlandsitze.ch will die Gründung neuer Gemeinschaften jedoch vorantreiben. Die Funktion dieser Familienlandsitze besteht darin, dass sich Familien von den Ernteerträgen ihres eigenen Landes ernähren können. Mit dieser Idee des Selbstversorger*innentums machen sich die Anastasianer*innen gerade im linksgrünen Milieu anschlussfähig: Sie organisieren Permakulturkurse und machen so potentiellen Neumitgliedern das ländliche Leben nach der Anastasia-Ideologie schmackhaft. Nach der Informationsplattform «Infosekta» sind die Landsitze für die Anastasianer*innen ein Schutz «vor Verschmutzung und falschen Einflüssen jeder Art» und ermöglichten die Entfaltung des «göttlichen Potentials». Hinter dem erstmals harmlos klingenden Prinzip steckt eine volle Ladung völkischen, tiefrassistischen Ge-dankenguts, nur einen Steinwurf entfernt von der Blut-und-Boden-Ideologie – einer agrarpolitischen Ideologie, welche davon ausgeht, dass es ein rassisch definiertes Volk gibt, das auf ein bestimmtes geografisches Gebiet Anspruch hat. So legitimierten die Nationalsozialist*innen mit Hilfe dieser völkisch-nationalistischen Ideologie die Eroberung von Lebensraum in Osteuropa. Die bäuerliche Lebensform wurde dabei idealisiert und dem «jüdischen Nomadentum» gegenübergestellt. Die Blut-und-Boden-Ideologie, die eine Grundlage für das völkische Gedankengut der Anastasianer*innen bietet, ist somit explizit rassistisch und antisemitisch.
Keine Beobachtung, keine Gefahr
Die Anastasia-Ideologie umfasst zentrale Aspekte menschlichen Lebens, wie etwa Wohnform, Bildung und Erziehung, Ernährung, Gesundheit, Vorstellungen von zwischenmenschlichen Bezie-hungen und (geschlechterspezifische) Rollenbilder. Deswegen wird die Anastasia-Bewegung in der Schweiz als sektenähnliche (3) Gruppierung eingestuft. In Deutschland wird sie als Sekte ange-sehen und in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet. «In der Schweiz haben wir keine Beobachtungsstrukturen, die auf Sekten ausgelegt sind. Dies führt dazu, dass es in der Schweiz eines der weltweit dichtesten Sektennetzwerke gibt», erklärt die Betonmalerin. Die liberale Handhabung führe dazu, dass sich Sekten unbehelligt ausbreiten können – so seien die Betonmaler*innen und die Antifa Schweiz zurzeit die einzigen Gruppen in der Schweiz, die systematisch zur Anastasia-Bewegung recherchierten.
Mit Anastasia hat der Autor Vladimir Megré eine Kunstfigur geschaffen, die Menschen inspiriert – und auf Irrwege führt. So leicht das Eintauchen in dieses Labyrinth ist, so schwer ist es, wieder herauszufinden, denn: Es ist eben gerade die Idee, dieser umfassenden Ideologie, ihre Anhänger*innen an sich zu binden, sie dazu zu bringen, ihr gesamtes Leben dieser Ideologie zu widmen und ihnen so jede Fluchtmöglichkeit zu nehmen. Die Aufklärung über Bewegungen wie jene der Anastasianer*innen ist somit ein Beitrag dazu, diese harmlos erscheinenden Ideologien zu entlarven und als das zu benennen, was sie schlussendlich sind: menschenverachtende, rassistische und misogyne Gedankenkonstrukte, deren Verbreitung es dringend zu verhindern gilt.
1 Esoterik ist die Lehre des «Geheimen». Esoteriker:innen gehen davon aus, dass es sogenannt «inneres, höheres Wissen» gibt, welches nur durch spirituelle Erkenntnis zu erlangen ist.
2 Geschichtsrevisionismus: Das Leugnen historischer Fakten und das gleichzeitige Verfechten einer alternativen Geschichtsschreibung.
3 Weitere Informationen auf infosekta.ch