Paläste einer neuen Zeit

NZZ Geschichte. Jüdische Einwanderer gründeten die Hälfte aller Warenhäuser in der Schweiz. Zuerst wurden sie vom traditionellen Gewerbe angefeindet, dann klebten antisemitische Parolen auf ihren ­Schaufenstern. Der Fall Julius Brann.

Von Angela Bhend

Am 22. August 1896 gelang einem erst zwanzigjährigen Unternehmer der grosse Coup: Julius Brann eröffnete in Zürich das erste Warenhaus der Schweiz. Das Geschäftsprinzip war neu, aber in den Nachbarländern hatte es den Detailhandel schon Jahrzehnte zuvor revolutioniert: In den Warenhäusern gab es unter einem Dach die verschiedenartigsten Produkte, und das zu günstigen, fixen Preisen.

«Ungeheure Massen Flitterkrams» seien in Julius Branns Geschäft am Talacker 50 versammelt, hiess es damals in einem Zeitungsbe­richt. Brann selber gab sein Sortiment in einem Inserat wenige Tage vor der Eröffnung bekannt: Kleiderstoffe, Seiden-, Manufaktur- und Modewaren, Aussteuerartikel, Teppiche, Vorhänge, Tisch- und Bettdecken, Schirme, Korsette, Mercerie, Bänder, Spitzen, Tapisserien, Schmuck, «Nippes- und Präsentartikel», Parfums, Seifen, Haushaltsutensilien, Neusilber- und Stahlprodukte, «echte Japan- und Chinawaren». Und das alles «2 Minuten vom Bahnhof, Rennweg und Paradeplatz».

Was folgte, war eine fulminante Karriere. Mit seiner Firma «Zürcher Engros-Lager» ex­pandierte Brann in zahlreiche Schweizer Städte, eröffnete ein Warenhaus nach dem anderen und setzte auch architektonisch neue Massstäbe. Mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Prachtbauten zeugen bis heute von seinem Wirken; dazu gehören das Jugendstilhaus am Basler Marktplatz (heute eine Globus-Filiale) genauso wie das Gebäude an der Bahnhofstrasse in Zürich, letztes Jahr von der Versicherungsgesellschaft Swiss Life in «Brannhof» umbenannt. Auch an der EPA, der 2005 verschwundenen Billigwarenhauskette, war Julius Brann beteiligt.

Und doch vermag sich heute kaum jemand an ihn zu erinnern. Mit der Sanierung des Brannhofs wolle sie, schreibt Swiss Life, sein in Vergessenheit geratenes Erbe ehren. Branns Warenhaus sei architektonisch wegweisend gewesen, es habe die Entwicklung der Bahnhofstrasse zur weltweit renommierten Flanier-, Einkaufs- und Geschäftsadresse geprägt. Nun soll der ursprüngliche Lichthof des Einkaufs­tempels wieder zum Vorschein kommen; mit der Metamorphose soll der «Pioniergeist aus der Gründungszeit» auferstehen. Vorgesehen ist eine gemischte Nutzung mit Büro- und Ladenflächen.

Wer aber war dieser Pionier? Neben seinen Bauten hat Julius Brann kaum Zeugnisse hinterlassen, und in der Geschichtsschreibung kommt er so gut wie nicht vor. Das mag auch am Verlauf seiner glanzvoll begonnenen Karriere liegen. Spätestens in den krisenhaften 1930er Jahren blies Brann in der Schweiz ein rauer Wind entgegen. Als jüdischer Zuwanderer bekam er eine wachsende Feindschaft zu spüren; seine Warenhäuser, vor allem die EPA, kamen ins Visier einer antisemitischen Kampagne, und 1939 sah er keinen anderen Ausweg mehr, als in die Vereinigten Staaten zu emigrieren.

Gekümmert haben ihn die Anfeindungen vordergründig lange Zeit wenig. Brann war ein Unternehmer, der an den wirtschaftlichen Fortschritt glaubte, und vermutlich war er beseelt vom gleichen liberalen Geist, der sich auch in ­seinem jüdischen Glaubensleben bemerkbar machte. Er war Mitglied der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich, trat aber mehr als spendabler Unterstützer denn als aktives Gemeindemitglied in Erscheinung. Solidarität und grossherzige Fürsorge, das jüdische Gebot der Zedaka, scheint er nicht nur gegenüber seinen Glaubensgenossen hochgehalten zu haben: Er blieb auch dabei, als sich die politischen Attacken gegen ihn zuspitzten und er als «superkapitalistischer Israelit», «Monster» und «Hai» bezeichnet wurde. Das habe für ihn keinerlei Bedeutung, schrieb er in einem Brief vom 7. August 1937 an Saly Mayer, den Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). «Es gibt leider im Leben keine Vollkommenheit, und Sie und ich werden die wirtschaftliche Struktur nicht ändern.»

In ihren Gründerjahren, zur Zeit des Fin de Siècle, waren die Warenhäuser Publikumsattraktionen. Die Zürcher Geschäfte von Brann und von Jelmoli wurden gar als «Sehenswürdigkeiten» angepriesen. Auch in Bern strömte 1899 die Bevölkerung von Stadt und Land tagelang herbei, um das neue Warenhaus Loeb zu bewundern. Und als Julius Brann 1905 in Basel seine Filiale eröffnete, berichteten die Basler Nachrichten von einem jener «modernen Grossbasare», wo jedes Bedürfnis zu erfüllen sei, «von der Wiege bis zum Totenkranz».

Das war aber nicht alles. Schilder mit festen Preisen auf den Produkten machten dem aufreibenden Feilschen ein Ende. Zudem wurde die Ware nicht mehr in Schubladen gelagert, sondern ausgelegt und im besten Licht gezeigt. Sie wurde bar bezahlt und konnte zurückgegeben werden, wenn sie zu Hause nicht gefiel. Schliesslich begünstigte ein freier Eintritt ohne Kaufzwang die Durchmischung der Kundschaft. Das fiel auch dem deutschen Theologen und Sozialdemokraten Paul Göhre ins Auge, der für seine Studien das Berliner Warenhaus Tietz besuchte. Im Lauf eines Vormittags, schrieb er, «erschienen neben- und nacheinander protestantische Diakonissen und katholische Nonnen, Demimondäne, ehrbare Bürgerfrauen, elegante Damen der Gesellschaft, Trauernde, Kinder, junge Weiber und alte Mütterchen, Hässliche, Schöne, Frische, Elastische, Langsame; ab und zu auch ein Mann».

Entstanden waren die Warenhäuser als neue Verkaufsform bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in jener Ära, der die Eisenbahn, die Urbanisierung, die Industrialisierung und die Massenproduktion ihren Stempel aufdrückten. In Metropolen wie London und Berlin, vor allem aber in Paris wurden ganze Häuserzeilen in Konsumpaläste verwandelt. Sie revolutionierten den Detailhandel und machten vielen kleinen Händlern den Garaus. «Eines der grössten Wirtschaftsphänomene unserer Zeit sind die grossen Basare», schrieb 1881 ein Berichterstatter in der Pariser Zeitung Le Figaro. Ihm fielen auch die Frauen auf. Für sie seien die Warenhäuser eine enorme ­Versuchung; sie verliessen sie mit geweiteten Pupillen, in einer Art fiebriger Trance.

Tatsächlich war das Warenhaus eine wirtschaftliche, aber auch eine gesellschaftliche Erscheinung. Vor allem den städtischen Frauen des aufstrebenden Mittelstands bot es einen öffentlichen Raum, in dem sie eine neuartige Freiheit erfuhren: Die Warenhäuser erweiterten ihr Betätigungsfeld, das im Übrigen auf die häusliche Sphä­re beschränkt war. Einkaufen wurde zum sinnli­chen Ereignis, zu jener Art von Zeitvertreib, den man heute Shopping nennt. Nicht umsonst nannte der Schriftsteller Émile Zola den Warenhausroman, den er 1882/83 schrieb, Au Bonheur des Dames, deutsch Das Paradies der Damen. In eine Liebesgeschichte gehüllt, verarbeitete Zola darin seine Milieustudien über die Pariser Wa­ren­häuser, so das Au Bon Marché (gegründet 1852) oder die Grands Magasins du Louvre (1855).

Von diesen «Kathedralen des neuzeitlichen Handels», diesen «Tempeln für den Verschwendungswahnsinn» (Zola) dürfte Julius Brann erstmals in Berlin erfahren haben. Er habe dort 1889 bis 1892 in einem Warenhaus gearbeitet, wurde später bei seiner Einbürgerung in Zürich festgehalten. Bei seinem Stellenantritt war er gerade dreizehn Jahre alt, doch er hatte gelernt, sich schwie­rigen Umständen anzupassen. Er wurde in eine jü­di­sche Familie in Preussen hineingeboren (das Gebiet gehört heute zu Polen), sein Vater starb früh, und seine junge Mutter musste sechs Kinder allein durchbringen. Die Familie folgte der Abwanderungswelle aus dem ländlichen Raum ins aufstrebende, verheissungsvolle Berlin. Die «vier Herrscher» der Stadt, ihre «un­gekrönten Kaiser» – so nannte der Publizist Leo Colze kurz nach der Jahrhundertwende die vier Berliner Warenhäuser: Wertheim, Tietz, Jandorf, Kaufhaus des Westens.

Nach seinen lehrreichen Jahren in Berlin zog Julius Brann südwärts, nach Karlsruhe. Hier fand er im Kurz-, Weiss- und Wollwarengeschäft der Geschwister Knopf eine Stelle. Wie die meisten anderen deutschen Warenhauspioniere entstammten auch die Knopfs einer jüdischen Fa­mi­lie. Während sich viele von ihnen mit Warenhäusern in Berlin installierten, etablierten sich die Knopfs im süddeutschen Raum – und von dort aus auch in der Schweiz.

Hier fasste die neue Konsumkultur allerdings erst spät Fuss. Bevor in Zürich 1864/65 die Bahnhofstrasse als Flaniermeile gebaut wurde, lag dort der stinkende Fröschengraben, Teil der alten Stadtbefestigung und Abwasserkanal. Es fehlte aber nicht nur an den städtebaulichen Voraussetzungen: Den Warenhäusern standen auch moralische Bedenken entgegen. Während in Paris bereits um 1830 das goldene Zeitalter der Modewarenhandlungen angebrochen war, galt es in der Schweiz noch lange als hoffärtig und lasterhaft, sich mit modischen Accessoires herauszuputzen – es gab sie weder in den traditionellen Kramläden noch in den kleinen Stoffhandlungen.

«Oh Zurich, quelle province!», schrieb eine gelangweilte Lydia Escher, Tochter des Zürcher Politikers und Wirtschaftskönigs Alfred Escher, in den 1870er Jahren an eine Freundin in Paris. Mit Modeartikeln deckte man sich hierzulande hauptsächlich an den jährlichen Mai- und Martinimärkten ein. Neben Kleidern, Schürzen, Schuhen und Haushaltsgegenständen wurden dort auch besondere Attraktionen verkauft, die ersten Walzengrammophone zum Beispiel. Das gab den Märkten eine Art städtisches Flair.

Erst an der Schwelle des 20. Jahrhunderts waren in der Schweiz die Voraussetzungen für grössere Einkaufshäuser geschaffen. Das muss auch Julius Brann gemerkt haben, der 1896 über Berlin und Karlsruhe nach Zürich kam und hier seine nächste Stelle fand, als Handelsangestellter in der Filiale der Geschwister Knopf an der Bahnhofstrasse. Denn noch im gleichen Jahr machte er sich selbständig – mit seinem eigenen Warenhaus nach deutschen Vorbildern und bald sechzig Angestellten. Wie er sich finanzierte, ist nicht bekannt. Aber 1908 wandelte er sein Un­ternehmen in eine Kommanditgesellschaft mit einem Kapital von 2,5 Millionen Franken um und holte dafür die finanzstarke Berliner Exportfirma Hecht, Pfeiffer und Co. an Bord. Sie beteiligte sich mit einer Million Mark und war fortan für den gesamten Einkauf bei Brann besorgt.

Zehn Jahre später folgte die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. Den Verwaltungsrat präsidierte Gustav Maier, ein deutscher Kaufmann und Bankier, der sich in Zürich niedergelassen hatte. Als Humanist und Pazifist war Maier auch ein Freund und Förderer des jungen Albert Einstein. So verfügte Julius Brann über bedeutende Beziehungen, die vielfach aus seinen Berliner ­Tagen stammten und ihm beim Aufbau seines Imperiums behilflich waren. Unter seinen Partnern und Freunden fanden sich Pierre Laguionie (Besitzer des Pariser Warenhauses Printemps), Oscar E. Haac (Warenhaus Wertheim) oder Karl Lämmle, Filmpionier und Gründer von Universal Pictures. Die Bekanntschaft mit Oscar Tietz, dem damals bedeutendsten Warenhausbesitzer in Deutschland, endete tragisch, als Tietz 1923 in die Schweiz fuhr, um Brann bei der Reorganisation seiner Firma zu beraten, und hier starb. Von Branns Verbindungen zeugt auch seine Ehe: 1904 heiratete er in Bern die achtzehnjährige Frida Mandowsky, das einzige Kind des Waren­haus­besitzers Adolf Mandowsky. Jüdische Ehen wurden damals in der Regel arrangiert, und nicht selten wurden damit geschäftliche Verbindungen gestiftet und gestärkt.

Julius Branns Warenhaus blieb nicht das einzige in Zürich. 1899, drei Jahre nach Brann, er­öffnete Giovanni Pietro Jelmoli seinen von den Architekten Stadler und Usteri erbauten Glaspalast, der zu den herausragenden Schweizer Warenhausbauten des Fin de Siècle zählt. Aufgefallen ist er auch den beiden Prager Schriftstellern Franz Kafka und Max Brod, die Zürich im Spätsommer 1911 besuchten. «Die kleine Stadt hat es eleganter als Prag», notierte Brod. Und Kafka schrieb in sein Reisetagebuch: «Erweiterungsbau eines Warenhauses. Beste Reklame. Jahrelanges Aufpassen der ganzen Bevölkerung.»

Auf Brann und Jelmoli folgten die nach wie vor existierenden Häuser: Loeb in Bern, Globus in Zürich, Nordmann (heute Manor) in Luzern. Andere Namen sind längst wieder verschwunden, genau wie jener von Brann: Knopf, Grosch & Greiff, Milliet & Werner, Wilhelm von Felbert, Gonset oder Mandowsky. Brann war aber nicht nur der Pionier, sondern auch der Prototyp: Die Warenhausgründungen in der Schweiz gehen auf Einwanderer zurück, rund die Hälfte auf jüdische Zuwanderer, die im 19. Jahrhundert ihre deutsche oder französische Heimat verliessen.

Die elsässischen Familien Maus und Nordmann (Manor) liessen sich in Biel nieder, bevor sie 1902 ihr erstes gemeinsames Warenhaus in Luzern eröffneten. David Loeb, ein Markt­fahrer aus Freiburg im Breisgau, etablierte sich in Bern. Giovanni Pietro Jelmoli war ein Italiener aus Piemont. Nur der aus St. Gallen stammende Globus-Gründer Josef Anton Weber war Schweizer, wenngleich einer mit Mobi­li­täts­erfah­rung: Er kam als Marktfahrer an die Zürcher Warenmessen, schickte seinen Sohn nach Paris und wurde dadurch mit der Warenhausidee infiziert.

Ihre Mobilität und ihr soziales Netzwerk erklären, warum die Warenhauspioniere zu einem grossen Teil Eingewanderte waren. Aus Hausierern und Marktfahrern seien allmählich Grosskaufleute geworden, schreibt der Wirtschaftshistoriker Leo Weisz. Sie hatten sich kaufmännisches Know-how und Verhandlungsgeschick angeeignet und profitierten davon, dass sie mit unterschiedlichen Orten, Kundschaften und Produzentenkreisen vertraut waren – im Gegensatz zu den einheimischen Krämern, die oft nur ihr Quartier und den lokalen Absatz kannten.

Für die jüdischen Unternehmer spielte die Mobilität eine besondere Rolle. Lange hatten ih­nen die westeuropäischen Staaten die freie Ab- und Zuwanderung verwehrt. Als diese rechtli­chen Schranken fielen, begannen die Juden ihren sozialen Aufstieg. So setzte in der jüdischen Bevölkerung Deutschlands im 19. Jahrhundert eine massive Binnenwanderung ein, die sie von Ost nach West und von kleineren Orten in die Städte führte. Man folgte Verwandten und Bekannten, gründete Geschäfte und begann zu expandieren.

Schon kurz nach seinem Debüt am Talacker legte Julius Brann den Grundstein für das Flaggschiff seines Unternehmens. An attraktivster Lage an der aufstrebenden Zürcher Einkaufsmeile, an der Bahnhofstrasse 75, liess er 1899 ein monumentales Geschäftshaus errichten. Der mo­derne Bau der Architekten Kuder & Müller umfasste vier Verkaufsetagen; mit seinen grossen Glasfronten hob er sich markant von den Nachbargebäuden ab und sorgte schon vor der Eröffnung für Aufsehen. «Ein Riesen-­Geschäfts­haus in orientalischem, monumentalem Baustyl soll die bekannte Firma Julius Brann an der Bahnhofstrasse in Zürich zu erstellen beabsichtigen», schrieb die Illustrierte schweizerische Handwerker-Zeitung.

Es war nicht nur die Fassade, die für Erstaunen sorgte, sondern auch der vom Berliner Warenhaus Wertheim inspirierte Innenraum: eine hohe Halle, überdacht mit einem grossen Gewölbe aus Glas, durch welches das Licht in den Hof bis hinab ins Parterre auf die vielen Auslagen fiel. Es gab einen «babylonischen Thurm» im vierten Stock, von dem die Kundschaft den Blick über die Stadt Zürich schweifen lassen konnte; einen «Erfrischungsraum», zudem einen Lift, eine Telefonkabine und ein fotografisches Atelier – Spektakel der Technik, die in den Privathaushalten noch selten waren. Später wurde das Gebäude in zwei weiteren Etappen (1911–1912 und 1927–1929) unter den Architekten Pfleghard & Haefeli sukzessive zu jenem Ensemble aus­gebaut, das bis zum Jahr 2020 das Warenhaus Manor beherbergte und nun zum «Swiss Life Brannhof» umgebaut wird.

Mit seinem Neubau war Julius Brann in die internationale Liga aufgerückt. Zum faszinierten Publikum gehörte auch die jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler, die in den 1930er Jahren im Exil in Zürich lebte. Befreundet mit Branns Direktor Hugo May sowie dessen Prokuristen Kurt Ittmann, weilte sie immer wieder im Warenhaus und schrieb ihnen am 9. Oktober 1934: «Ich will Sie nicht immer im Bureau stören. Oft sehe ich mir die Dinge an in allen Räumen. Und bleib begeistert stehen im Nadelsprudelbad und Seifenschäumen. Denn die Abteilung habe ich besonders in mein Herz geschlossen. Auch oben in dem Spielabteil seh ich die Puppen an und reite hoch zu Schaukelpferd und gescheckten Rossen.»

So viel Aufsehen sein Geschäft auch erregte: Julius Brann selbst war ein unauffälliger Zeitgenosse, der in den Akten so gut wie keine Spuren hinterlassen hat. Eine Ausnahme ist sein Einbürgerungsverfahren, das sich auffallend lange hinzog. 1920 reichte er sein erstes Gesuch bei den Zürcher Behörden ein, 1925 sein zweites, und bei­de wurden abgelehnt – wegen einer Betreibung von Steuerschulden und einer Reihe von Polizeibussen, die das Warenhaus betrafen. Es ging um Ruhestörung, musikalische Darbietungen ohne amtliche Bewilligung und einen bissigen Hund. Entscheidender waren aber wohl die seit dem Ersten Weltkrieg bestehenden Bestrebungen der Fremdenpolizei, die Schweiz vor einer «Verjudung» zu bewahren.

1929 war Brann mit Vorwürfen konfrontiert, seine Firma bezahle die Angestellten schlecht. Umso erleichterter dürfte er gewesen sein, als es kurz darauf mit seiner Einbürgerung im dritten Anlauf doch noch klappte: Am 9. Dezember erhielt er das Landrecht der Stadt Zürich. Es ist eine offene Frage, welche Rolle es dabei spielte, dass er im gleichen Jahr vom Gärtner Jakob Gasser für 20 000 Franken eine umfangreiche Sammlung von Kakteen und anderen Sukkulenten kaufte und sie der Stadt schenkte. Sie selbst konnte sich den Kauf angesichts der anbrechenden Weltwirtschaftskrise nicht leisten. Die Sammlung, eine der bedeutendsten weltweit, existiert noch heute; sie ist am Mythenquai zu besichtigen.

Aber auch Brann bekam die Folgen der Fi­nanz- und Wirtschaftskrise zu spüren, die sich in den Dreissigerjahren verschärfte: Die Warenhäuser wurden zur Zielscheibe einer rechtsradikalen Bewegung, der «Fronten». Sie bewirtschafteten die wachsende Angst vor «Überfremdung» und die sozialen Spannungen, die im Ersten Weltkrieg aufgebrochen waren. Es ging um die Kluft zwischen der Not breiter Schichten und dem wachsenden Reichtum von Unternehmern und Bauern; sie hatte Platz für die Entfaltung der rechtsextremen Kräfte geschaffen.

Eine erste Welle antisemitischer Aktionen erfasste die Schweiz schon in den Jahren 1923 und 1924, als Flugblätter verteilt und Warenhäuser verschmiert wurden. «Kauft nichts bei Juden!», hiess es auf den Zetteln, mit denen beispielsweise in St. Gallen die Schaufenster von Brann & Co., May & Co. und Fink-Gut beklebt wurden. Das war Wasser auf die Mühlen jener politischen Strömung, die im Namen des «Mittelstands» schon länger gegen die Warenhäuser kämpfte.

Schon bei ihrem Auftauchen um die Jahrhundertwende zogen diese «Grossbazare» und «Monsterhallen» Unmut auf sich. Den Ver­tretern des traditionellen Gewerbes waren vor allem die neuartigen Verkaufsmethoden ein Dorn im Auge. Die Vielfalt der Waren, ihre öffentliche Zurschaustellung, die tiefen Preise, der freie Zugang, die Reklame – all das wurde als Schwindel und unlauteres Geschäftsgebaren kritisiert. Das St. Galler Volksblatt publizierte 1899 einen Aufruf an alle «Frauen und Töchter», nicht in diesen «auslän­dischen Geschäften» einzukaufen und das «Un­reelle» der Warenhäuser zu erkennen: Die vermeintliche Billigkeit sei oft «Lug und Trug».

Kritisiert wurde die irreführende «Verschleu­derung» von «Lockartikeln» auch in einer Ein­ga­be an die Regierung des Kantons St. Gallen aus dem gleichen Jahr. Heute spräche man von Kon­sumentenschutz, doch die Diskussion über die Warenhäuser ging weit darüber hinaus: Während sie für die einen ein Triumph des Fortschritts waren, sahen die anderen die moralische und soziale Ordnung bedroht. Nicht zuletzt die vermeintliche Verführbarkeit der Frauen war dabei ein Thema. Der Erfolg der Warenhäuser habe nichts mit wirtschaftlichen Qualitäten zu tun, hiess es in der Eingabe an die St. Galler Regierung: Es liege allein am «Reiz ihrer äussern glanzvollen Ausstattung», dass sie «in man­­cher Stadt zum öffentlichen Salon der Frau­en­welt geworden sind».

Die Kritik flachte nach den Gründerjahren ab. Doch 1930 eröffnete Julius Brann in Zürich, Genf und Lausanne die Billigwarenhauskette EPA (Einheitspreis AG), an der auch Maus Frères SA und die deutsche Karstadt AG beteiligt waren. Mit ihrer Niedrigpreispolitik machte sich die EPA vor allem bei den vielen Arbeitslosen und den Ar­bei­ter­fami­lien rasch beliebt. Zugleich befeuerte sie damit die Warenhausfeindschaft bei den krisengeplagten Kleinhändlern.

Die Machtergreifung Adolf Hitlers gab der Frontenbewegung Auftrieb. Sie übernahm die entsprechenden Programmpunkte von Hitlers NSDAP, die schon 1920 die «Schaffung eines gesunden Mittelstandes» und die «sofortige Kommunalisierung der Grosswarenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende» gefordert hatte. Angeführt von der «Neuen Schweiz», einer Organisation, die den Fronten nahestand und national-konser­vative Ziele verfolgte, erreichten mittelständische Krei­se 1933 einen Erfolg im Parlament: das Warenhausverbot. Damit wurden in der Schweiz die Eröffnung und die Erweiterung von Waren­häu­sern, Einheitspreisgeschäften und Filialbe­trieben untersagt. Das Verbot sollte bis 1945 in Kraft bleiben.

Trotzdem oder gerade darum spitzte sich die Lage weiter zu. In einer von der Westschweiz ausgehenden Kampagne wurde 1937 nichts Geringeres von Julius Brann und Maus Frères gefordert, als die EPA zu liquidieren und die Schweiz zu ­verlassen. Die aufgeheizte Stimmung bereitete auch dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund Sorgen. SIG-Präsident Saly Mayer mahnte die Warenhausbetreiber, sich zurückzuhalten und sich ihrer Verantwortung gegenüber der jüdischen Gemeinschaft bewusst zu werden.

Auch auf Julius Branns Geschäften klebten Boykottaufrufe. Zunächst blieb er unbeeindruckt und zuversichtlich. Dabei hatte er als Jude allen Grund, sich bedroht zu fühlen. Der Überfall auf Polen, mit dem Deutschland den Zweiten Weltkrieg begann, gab den Rechtsextremen Auftrieb; auch ein deutscher Einmarsch in die Schweiz war nicht ausgeschlossen. Eine Zeitzeugin aus dem Freundeskreis der Branns sollte sich später erinnern: «Sie wussten nicht, ob die Schweiz neutral bleiben würde, und die Atmosphäre in Zürich war nicht angenehm.»

Durch seine Beteiligung an ausländischen Einheitspreisgeschäften in Spanien (Sepu) und in der Tschechoslowakei (Jepa) war Julius Brann noch stärker als andere mit einem unverhohlenen Antisemitismus und der bedrohlichen Entwicklung konfrontiert. Ausserdem waren seine deutschen Familienangehörigen vor den Nationalsozialisten auf der Flucht. Mit viel Mühe gelang es ihm, seine Mutter 1935 in die Schweiz zu holen, wo sie nur ein paar Monate später starb. Sein jün­gerer Bruder und dessen Frau sowie seine ältere Schwester flüchteten ins aargauische Baden. Einem seiner Neffen, den er als Filialleiter im Prager Jepa-Warenhaus eingesetzt hatte, gelang die Flucht aus der besetzten Tschechoslowakei nicht mehr rechtzeitig. Er wollte nach Schanghai emigrieren, doch die Prager Polizei lehnte sein Gesuch um Ausreise ab. Am 4. Dezember 1941 wurde er ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, am 29. September 1944 weiter nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.

Julius Brann befand sich weder in einer Notlage, noch wurde er von den Nationalsozialisten verfolgt. Doch die Kampagne gegen ihn und die anderen jüdischen Warenhausbesitzer verfehlte ihre Wirkung schliesslich nicht: Mit dem Druck wuchs auch die Angst. 1939 veräusserte Brann seine Firma an den Verwaltungsratspräsidenten Oscar Weber, der schon seit den 1920er Jahren massgebliche Aktienanteile hatte. Gerüchte besagen, Brann habe weit unter Wert verkauft. Aber es ging auch darum, Arbeitsplätze zu erhalten. Womöglich musste Brann sogar froh sein, im Krieg überhaupt einen Käufer zu finden. Jedenfalls lehnte der Waffenfabrikant Emil Bührle, der damals reichste Zürcher, eine Beteiligung am Warenhaus Brann ab.

Auch bei Jelmoli räumten 1940 alle jüdischen Verwaltungsräte und Direktionsmitglieder ihre Posten; sie emigrierten in die USA. Das Israeli­tische Wochenblatt schrieb 1941, eigentlich brauche aus der Schweiz niemand auszuwandern. Doch viele jüdische Bürger bekamen es angesichts der Entwicklungen im Aus- und Inland mit der Angst zu tun. Wer konnte, und das waren die Vermögenden, machte sich auf in Richtung Übersee. Julius Brann und seine Frau brachten sich in den USA in Sicherheit: Am 3. Dezember 1939 bestiegen sie in Genua den italienischen Ozeandampfer «SS Rex» und gingen nach zehn Tagen Überfahrt in New York von Bord.

Voller Hoffnung verfolgte Brann in den ­Vereinigten Staaten die Idee der Einheitspreis­geschäfte weiter. Zusammen mit Frank Bruce, einem Abkömmling des Zürcher Seidenhandelsunternehmens Abraham, Brauchbar & Cie., eröffnete er in New Rochelle und in Hazleton einen «Bon-Ton Department Store», wobei er sich vor allem als Geldgeber beziehungsweise stiller Teilhaber beteiligt haben dürfte. Doch der Erfolg blieb aus, die Bon-Ton-Warenhäuser verloren an Dynamik, und auch Brann selbst war in die Jahre gekommen. Zuletzt soll er in seinem Büro in Manhattan nur noch aufgekreuzt sein, um die Post zu entsorgen.

Am 5. Februar 1961, im Alter von 85 Jahren, starb der einst erfolgreiche Schweizer Warenhauspionier einsam und unbemerkt. In den USA war er ein Unbekannter, in der Schweiz in Vergessenheit geraten. Nur das Israelitische Wochenblatt publizierte einen Nachruf, einen knappen, aus New York eingesandten Fünfzeiler. Er habe in der Schweiz als Gründer von Warenhäusern eine bedeutende Rolle gespielt, hiess es darin; er sei bekannt und beliebt gewesen, zudem ein vorbildlicher Kaufmann und Arbeitgeber.

Seine Frau Frida folgte ihm drei Jahre später, sie starb am 1. Juni 1964. Beide sind auf dem Ferncliff Cemetery in Hartsdale im Gliedstaat New York bestattet. «Cathedral of Memories» – so nennt sich der Bau auf dem Friedhof, in dem die Namen der Toten in Marmor graviert sind. Viel Erinnerung an Julius Brann ist dennoch nicht geblieben. Womöglich ändert sich mit dem «Brannhof» etwas daran. | G |

Angela Bhend, Jahrgang 1972, ist promovierte Kulturwissenschafterin und ­freischaffende Historikerin. Derzeit arbeitet sie als Kuratorin im Ausstellungsprojekt des Zentrums ­Doppeltür in Lengnau, das sich mit dem jüdisch-­christli­chen Zusammenleben im Aargauer Surbtal beschäftigt. Ihre Doktor­arbeit schrieb Bhend über jüdische Waren­haus­gründer in der Schweiz.


Weiterführende Literatur

Angela Bhend: Im Tempel der Versuchungen. Das Warenhaus als Erfahrungs- und Ordnungsraum, in: Stefan Groth u. a. (Hg.): Ordnungen in Alltag & Ge­sell­schaft. Würzburg 2019, S. 219–242.

Dies.: Triumph der Moderne. Jüdische Gründer von Warenhäusern in der Schweiz, 1890–1945. Zürich 2021.

Detlef Briesen: Warenhaus, Massen­konsum und Sozialmoral. Zur Geschichte der Konsumkritik im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2001.

Leo Colze: Berliner Waren­häuser. Berlin 1908.

Erwin Denneberg: Begriff und Geschichte des Warenhauses. Zürich 1937.

Paul Göhre: Das Warenhaus. Frankfurt am Main 1907.

Heidi Witzig: Einkaufen in der Stadt Zürich um die Jahrhundertwende, in: Schwei­ze­rische Zeitschrift für ­Wirtschafts- und Sozialgeschichte 15 (1997), S. 133–146.

Émile Zola: Das Paradies der Damen. Frankfurt am Main 2004 (Original­ausgabe 1883).

«Besonders bemerkenswert ist die vornehme Ruhe des Lichthofes», berichtet die Schweizerische ­Bauzeitung vom Umbau der Jahre 1927 bis 1929. Später wurde der Hof mit Geschossdecken ­zugebaut ­(Aufnahme um 1930).

Warenhäuser verkörperten eine neue Kultur des Konsums. ­Die Moral sorgte dafür, dass sie in der Schweiz erst spät Fuss ­fassten: Mode galt als Laster. Im Zürcher Warenhaus von Julius Brann (Aufnahme nach 1929).

Eine aufstrebende Einkaufsmeile: Das Warenhaus Brann an der ­Bahnhofstrasse 75 in Zürich, 1926. ­Das Eckhaus ist die Erweiterung von 1912, rechts schliesst sich der erste Bau von 1899 an.

Alles unter einem Dach, «von der Wiege bis zum Totenkranz», und alles öffentlich zur Schau gestellt: Das machte das Warenhaus zur Attraktion. Rayon Wurst und Fleisch bei Brann (Aufnahme um 1930).

Der «Erfrischungsraum» mit ­Wandmalereien zeitgenössischer Zürcher Künstler: Das Café im zweiten Stock des Warenhauses Brann, eingebaut 1927–1929 ­(Aufnahme um 1930).