Der Landbote. Kommunikation in der Krise Mohrenkopfaffäre um die Migros, Rassismus-Knatsch einer Post-Influencerin: Social-Media-Profis prägen das Bild der Grossunternehmen. Über einen einst belächelten Berufsstand mit wachsendem Einfluss.
Sie standen mittendrin. Im Shitstorm. Anstrengend sei diese Mohrenkopfsache gewesen, sagen sie bei der Pressestelle der Migros. Noch einmal ist die Rede von den Kolleginnen und Kollegen, die rotierten, sich die Mühe machten, stundenlang wütende Posts konstruktiv zu beantworteten, und schliesslich Verstärkung aus anderen Abteilungen anfordern mussten. Tausende Meldungen, die über Facebook, Twitter oder Instagram reinkamen, mussten beantwortet werden; innerhalb von zwei Tagen waren es so viele wie sonst in einem ganzen Monat.
Der Ausnahmezustand steckt den Mitarbeitern der Kommunikationsabteilung der Migros noch in den Knochen. Denn was sich erst einmal im virtuellen Echoraum zusammenbraut, hat eine Intensität, die für alle Firmen dieser Welt zum Fürchten ist. «Es war uns bewusst, dass dies ein kontroverses Thema ist und emotionale Diskussionen auslöst. Denn es gibt dazu ganz unterschiedliche Interpretationen und Meinungen», sagt Cristina Maurer, Mediensprecherin der Migros. Das Produkt der Firma Dubler war zwar nur in zwei Filialen im Raum Zürich im Verkauf. Der Entscheid der Migros, diese dort aus dem Verkauf zu nehmen, löste aber rasch schweizweit eine heftige Kontroverse aus. Begonnen hatte der Konflikt auf Twitter.
Wo sich die Kunden tummeln
Social-Media-Plattformen sind längst zu Wettermachern der Wirtschaft geworden. Was dort entsteht, hat direkten Einfluss auf den Geschäftsgang. Es gibt viel zu verlieren, aber auch viel zu gewinnen. Denn auf diesen digitalen Plätzen tummeln sich die Kunden massenhaft. Untersuchungen gehen davon aus, dass heute bereits über die Hälfte der Schweizer Bevölkerung regelmässig auf einem Kanal der Social Media (SoMe) unterwegs ist. Wer also Dinge verkaufen, Konsumenten an sich binden will, muss auf Facebook, Twitter, Instagram und Co. Präsenz markieren. Laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) verfügen heute 70 Prozent aller Schweizer Firmen über ein spezifisches SoMe-Budget, 2013 waren es noch 30 Prozent.
Es kommt darum immer öfter vor, dass in Krisensituationen die junge SoMe-Abteilung den Takt vorgibt. Und manchmal, wie im Fall der Influencerin Mimi Jäger, gar selbst zum Verursacher des Problems wird. Doch das sind Kollateralschäden in der Hitze des Gefechts. Denn die zumeist von älteren Semestern besetzten Chefetagen wissen, dass es ohne die jungen Nerds nicht mehr geht. Diese verstehen die digitalen Dynamiken, sie können die Codes übersetzen, die schlussendlich zu einem führen sollten: besserem Verständnis für den Kunden, besserem Umsatz.
Rafael Azzati sieht als Studienleiter für Digitale Kommunikation am Medienausbildungszentrum (MAZ) viele Digital Natives bei sich durchmarschieren. Sie alle blicken in eine rosige Zukunft: boomende Branche, gutes Geld.
Dabei kennt Azzati noch Zeiten, als genau dieser Job von Praktikanten ausgeführt werden musste. «Es war oftmals auch der Typ, der in einer Besenkammer dazu verdonnert wurde, die Internetseite zu bauen», sagt er. Ab 2010 begannen dann einige Grossfirmen zaghafte erste Versuche auf Facebook, Teams wurden gebildet. Die Migros war früh dabei, damals noch mit nur zwei Personen (heute sind es rund 15). Es brauchte aber noch weitere Jahre, bis Firmen erkannten, dass sich auf diesen neuen Kanälen auch Dienstleistungen abwickeln lassen. «Es wurde schnell deutlich, dass das so viel dynamischer war als das profane Kundentelefon.»
Seither hat die Arbeit auf SoMe sich von den Niederungen einer Praktikantenarbeit gelöst. Mittlerweile seien die Anforderungen an einen Social-Media-Manager enorm gestiegen, sagt Azzati. «Am besten Hochschulabschluss, mehrsprachig und natürlich mit unzähligen Online-Tool-Fähigkeiten.» Dafür winken Jobsicherheit und Erstlöhne ab durchschnittlich 5000 Franken pro Monat.
Worauf es für Firmen in den Social Media ankommt, versteht kaum jemand so gut wie David Cappellini. Der 34-Jährige bespielt mit seiner Zürcher Agentur Monami für diverse Firmen die SoMe-Kanäle, liefert Content, also Inhalte, und betreut das Community Management. Heisst: Er und seine Mitarbeiter beantworten die Fragen der Kunden, besänftigen diese, entschuldigen sich oder bedanken sich ganz profan. Alles im Namen der entsprechenden Firma.
KMU oder Grosskonzern, Cappellini, ehemaliger Journalist, hat das ganze Spektrum der Schweizer Wirtschaft in seinem Portfolio – und in seinem loftähnlichen Büro in der Stadt Zürich eine neue Generation von Schreibern neben sich. Durchschnittlich 25 Jahre alt ist seine Belegschaft. Und voll motiviert. Schreibt er eine Stelle aus, wird er von Bewerbungen überflutet. Neuer Traumjob: SoMe-Manager.
«Um für unsere Kunden sprechen zu können, müssen wir diese natürlich sehr gut kennen, müssen wissen, was sie ausmacht, wie sie sich repräsentieren wollen», so Cappellini. Übernimmt Monami ein Mandat, heisst das für die Mitarbeiter: lesen. Tagelang. Alle Posts der entsprechenden Firma des letzten Jahres, alle Antworten, Firmen-Manuals, Arbeitsprozesse. «Das kann dann schon mal zwei, drei Wochen beanspruchen.» Zudem müssten gemeinsam mit dem Kunden die sogenannten Nettiketten ausgearbeitet werden, die Standardantworten; grössere Kunden haben bis zu 50 verschiedene. So lässt sich effizient kommunizieren – bei bis zu mehreren Hundert Einträgen pro Tag unabdingbar.
Und trotzdem muss der SoMe-Manager präsent bleiben, muss jeden Eintrag lesen und ein Gespür entwickeln. Denn unter der Flut von Posts kann stets einer sein mit Sprengkraft, einer mit dem Potenzial zum Shitstorm.
Es ist das, was David Cappellini manchmal «Blut und Wasser schwitzen lässt». Er sei darum – «trotz wahrscheinlich chaotischem Wesen» – beruflich ein Kontrollfreak geworden, einer, der alles geregelt haben will. Deuten sich nur die leisesten Anzeichen eines Sturms an, müssen seine Mitarbeiter zwingend den jeweiligen Vorgesetzten holen. Immer. So wie einst bei einem Facebook-Eintrag: Eine Kundin fühlte sich in einem Laden schlecht behandelt und forderte eine Stellungnahme. David Cappellini nahm sofort Rücksprache mit der Geschäftsleitung seines Kunden, tauschte sich mit dem beschuldigten Mitarbeiter aus. Am Ende zeigte sich, dass es genau umgekehrt war und der Angestellte gar rassistisch beleidigt worden war; die Situation konnte entschärft werden. «Aber geht so etwas schnell viral, interessieren die wahren Umstände niemanden. Dann haben wir den Super-GAU.»
Oft reicht ein einzelner Eintrag
Die Sorge, in einen Shitstorm zu geraten, prägt die Branche. Und wer schon mal wie die Profis der Migros mittendrin stand, weiss, warum. Rafael Azzati spricht von einer nach oben kreisenden Erregung, die sich ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr aufhalten lasse. «Es liegt in der Natur von Social Media, dass Dinge, die trenden, also viel Traffic erzeugen, noch mehr gepusht werden. Und dafür reicht oftmals ein einzelner Eintrag.»
Der Einzelne hat mit Social Media ein machtvolles Instrumente in den Händen. Für den MAZ-Dozenten ist das nicht nur gut. Schlussendlich kann diese Hyperindividualisierung sehr amoralisch werden. «Eine Gesellschaft und auch eine breit aufgestellte Firma wie die Migros braucht einen gewissen Konsens. Man darf sich nicht von jedem Post zu Veränderungen drängen lassen.» Azzati glaubt darum, dass gerade in Zukunft Standhaftigkeit und eine klare Haltung für Firmen zentral werden.
In der Mohrenkopfaffäre wollte die Migros eben jene Haltung beweisen. Es kam nicht besonders gut, wie man heute weiss. Was also tun? «Manchmal reicht nur eines: Kopf einziehen und warten, bis alles vorbei ist», sagt Rafael Azzati.
Eine Woche, zwei Shitstorms
Am 10. Juni kündigte die Migros an, keine Dubler-Mohrenköpfe mehr zu verkaufen. Auslöser waren die «Black Lives Matter»-Proteste nach dem Tod von George Floyd. «Dass dieser Entscheid ebenfalls zu Diskussionen führen wird, ist uns bewusst», schrieb die Migros auf Twitter. Tatsächlich: Der Shitstorm dauert schon zehn Tage. Am 13. Juni ärgerte sich Influencerin Mirjam Jäger auf Instagram über den Verkehrsstau, den die «Black Lives Matter»-Demos in Zürich auslösten. Aufgrund negativer Reaktionen trennten sich die Post und andere Auftraggeber umgehend von Jäger. Damit eskalierte der Konflikt erst recht. Nun wollen Post und Jäger ein klärendes Gespräch führen. (lnz)