bajour.ch. Eine Baselbieter Politikerin verbreitet in einem Telegram-Chat antisemitische Verschwörungstheorien. Gegenüber Bajour sagt sie, dass sie zu diesen Aussagen stehe, ihr Parteipräsident nimmt sie in Schutz. Das Beispiel zeigt, dass der gesellschaftliche Konsens über Tatsachen bröckelt. Wie damit journalistisch umgehen?
Im Parlament einer Basler Agglogemeinde beschäftigt sie sich mit der Infrastruktur ihres Wohnorts. Doch die Lokalpolitikerin treiben nicht nur regionale Themen um. Sie interessiert sich für das grosse Ganze. Und schlägt in diesem Zusammenhang ganz andere Töne an.
Sichtbar wird das in einem öffentlich einsehbaren Telegram-Gruppe, in der die Lokalpolitikerin Mitglied ist. Die Mitglieder des Chats nennen ihn «patriotisch», er dient ihnen als «Basis für Austausch und Vernetzung Gleichgesinnter». Kaum jemand ist unter dem richtigen Namen dabei. Eine der Ausnahmen ist Tobias Steiger, Vorsitzender der PNOS beider Basel, der im Chat den Nationalsozialismus verherrlicht. Die Mitglieder nennen sich «Florian Geyer» (wie die achte SS-Kavallerie-Division der Nationalsozialisten), «suum cuique» (auf deutsch «jedem das seine», Aufschrift am Eingang des KZ-Buchenwald), «Uwe Tag X» (Tag X steht in rechtsextremen Kreisen für den Tag, an dem das System zusammenstürzt und die anschliessende Auslöschung politischer Gegner*innen) oder «Völkerball 0815» (Bezug auf den Ersten Weltkrieg).
Am 9. Oktober teilte ein Mitglied das Livestream-Video des Anschlags auf die Synagoge in Halle (DE), das der Täter selbst erstellt hatte, mit der Gruppe. Das Video wurde nie gelöscht. Ein Rechtsextremer versuchte an diesem Tag in die Synagoge einzudringen, um gezielt Juden* und Jüdinnen* umzubringen. Er scheiterte, erschoss stattdessen eine Passantin und den Gast eines Döner-Imbisses. Die Tat begründete er mit der antisemitischen Idee der «Jüdischen Weltverschwörung».
Die Lokalpolitikerin reagierte im Chat auf den Anschlag: «Das Ganze ist von mir aus ein riesen Schmierentheater… Garantiert kein einsamer Wolf etc. Das ist alles organisiert», schrieb sie. Tage später doppelte sie nach: Der Anschlag auf die Synagoge sei «Vermutlich Mossad false flag… also doch!» Die Lokalpolitikerin glaubt demnach, der israelische Auslandsgeheimdienst habe das Attentat durchgeführt und es so aussehen lassen, als stecke ein Rechtsextremer dahinter. Dadurch potenziert sie eine antisemitische Tat mit noch mehr Antisemitismus.
«Es kommen laufend neue Theorien dazu»
Bajour hat den Chat über Wochen beobachtet und dabei mehrere antisemitische Entgleisungen der Lokalpolitikerin dokumentiert. Ihre Aussagen stellten die Redaktion vor ein Dilemma: Wie journalistisch damit umgehen? Einerseits sind die Äusserungen drastisch und zeugen von einem paranoiden Misstrauen gegenüber Behörden und Politik. Und das von einer gewählten Politikerin, notabene.
Andererseits hat sie als Teil eines vierzigköpfigen Parlaments nur begrenzt Einfluss, sie ist in der Region kaum bekannt. Ihre Privatsphäre ist demnach stärker zu gewichten als bei einer einflussreicheren und bekannteren Persönlichkeit. Wir beschlossen deshalb, weder Namen oder Wohnort, noch Partei der Politikerin zu nennen. Trotzdem halten wir das Phänomen der antisemitischen Äusserungen für relevant und baten eine ausgewiesene Expertin, der wir Auszüge aus dem Chat vorlegten, um eine Einschätzung.
Alma Wiecken ist Geschäftsführerin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Für sie sind solche Chats keine Neuheit: «Antisemitische Verschwörungstheorien sind ein Phänomen, dem man gerade in den Kommentarspalten der Onlinemedien und den sozialen Netzwerken häufig begegnet», sagt sie. Antisemitismus trete wellenförmig in unterschiedlicher Intensität auf. «Das Internet mit seinen zusätzlichen Kommunikationsmöglichkeiten hat die Sichtbarkeit antisemitischer Äusserungen erhöht.»
Die verschiedenen Verschwörungstheorien, wie beispielsweise diejenige einer jüdischen Weltverschwörung, würden nicht aussterben, sondern ständig aktualisiert. «Zusätzlich kommen laufend neue Theorien dazu.» Es sei wichtig, Verschwörungstheorien und Fake News als solche zu bezeichnen und zu entlarven. «Dies nicht um überzeugte Verschwörungstheoretiker zu überzeugen, sondern um unentschlossenen Mitlesenden in den sozialen Medien zu signalisieren, dass es sich hierbei um Verschwörungstheorien handelt und Ihnen einen Weg heraus aus der Filterblase der Verschwörungstheoretiker zu weisen.»
Ein weiteres Beispiel aus dem Chat: Am 9. Oktober leitete die Lokalpolitikerin eine Nachricht aus einem anderen Chat weiter, in der steht, dass der jüdische Financier George Soros vor den National- und Ständeratswahlen Politiker*innen gekauft habe.
«Es ist schlussendlich eine Glaubenssache»
Die Lokalpolitikerin fühlt sich im Chat offensichtlich wohl, sie finde den Austausch «heimelig», schrieb sie am 13. Oktober abends. Bajour hat die Politikerin angerufen und sie mit ihren Äusserungen im Chat konfrontiert. Sie stehe zu den Aussagen, sagt die Einwohnerrätin. Nach wie vor sei sie überzeugt davon, dass der Anschlag auf die Synagoge in Halle manipuliert sei. Sie sei auch davon überzeugt, dass globale Eliten Europa mit Migranten fluten wollen.
Dazu sagt Rassismusexpertin Wiecken: «Studien aus den USA zufolge glauben überzeugte Verschwörungstheoretiker noch mehr an ihre Verschwörungstheorien, wenn man sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert. Verschwörungstheorien machen ein Erklärungsangebot, wie die heutzutage zugegebenermassen immer komplexere Welt funktioniert.» Verschwörungstheoretiker*innen nähmen für sich in Anspruch, verstanden zu haben, wie die Welt wirklich funktioniert. Ihre Identität hänge stark vom Glauben an die Verschwörungstheorie ab.
Gegenüber Bajour sagt die Lokalpolitikerin: «Ich behaupte nicht, die absolute Wahrheit zu kennen. Es ist schlussendlich eine Glaubenssache.» Wenn ihr jemand das Gegenteil plausibel beweisen könne, würde sie das glauben. Sie ist aber überzeugt: «In Deutschland sind die Medien gleichgeschaltet. Ich akzeptiere absolut andere Meinungen und bin diesbezüglich auch für Toleranz. Ich könnte völlig fehlgeleitet sein. Aber auch die Katholiken könnten völlig fehlgeleitet sein. Wir werden in Zukunft sehen, wer recht hatte.»
«Kein Grund, dass sie nicht mehr Einwohnerrätin sein könnte»
Die Lokalpolitikerin sei in verschiedenen Telegram-Gruppen, sagt sie. Die Mitglieder der Gruppe kenne sie nicht persönlich. «Die Gruppe ist für mich unbedeutend, sie hat nur etwa 50 Mitglieder. Es ist ja auch nicht strafbar, in dieser Gruppe zu sein. In der Schweiz darf man sagen, was man denkt. Noch.» Und sie betont: «Meine Parteikollegen haben damit nichts zu tun und teilen meine Ansichten in diesem Kontext nicht.» Nach dem Anruf von Bajour änderte die Lokalpolitikerin ihren Namen im Chat, blieb aber Mitglied.
Der Präsident ihrer Partei lässt sich auf Anfrage wie folgt zitieren: «Antisemitische Aussagen von ihr kenne ich keine. Sie macht im Einwohnerrat einen guten Job. Wir sind keine Rassisten. Ich habe weder etwas gegen Juden, noch Moslems. Für mich sind die Aussagen innerhalb dieses Telegram-Chats kein Grund, dass sie nicht mehr Einwohnerrätin für uns sein könnte.»
Fazit: Es ist wichtig, über ideologische Verschwörungstheorien zu reden. Darüber, was sie mit uns tun und wie sie sich in unsere Gesellschaft fressen. Darüber, dass je länger je mehr Fakten zur Glaubensfrage gemacht werden, dass der Konsens über Tatsachen bröckelt. Das ist brandgefährlich. Es ist wichtig und alarmierend zu sehen, dass es keinen Weg zu geben scheint, überzeugte Verschwörungstheoretiker*innen umzustimmen. Es bringt nichts, die Theorien totzuschweigen weil davon verschwinden sie nicht einfach. Sie wuchern grösstenteils im Verborgenen, radikalisieren Menschen im Extremfall dermassen, dass auf Vernichtungsfantasien Taten folgen. Es wird deutlich, wie viel betreffend Medienkompetenz und Fake-News-Bekämpfung getan werden müsste. Wichtig ist, zu dokumentieren, dass eine Partei Antisemitismus akzeptiert. Das tun wir hier. Aber wir nennen den Namen der Politikerin nicht.