Der Mann, dem die Menschen ihr Misstrauen anvertrauen

bajour.ch. Niemand hat die Kraft des Zweifels so geschickt zur persönlichen Erfolgsgesschichte gemacht, wie der Basler Daniele Ganser. Auch die Welle der Corona-Leugner*innen surft er souverän.

In weissen Schutzanzügen laufen sie durch die Strassen Liestals: Die Mitglieder des «Stillen Protest». Auf ihren Bannern steht: «Erwacht endlich» oder «Masken bringen uns nicht zum Schweigen». In der Ankündigung zur Demonstration war von «Geiselhaft» die Rede, die der Bundesrat zu verantworten habe.

Die Demonstration gegen die Massnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie am 20. März in Liestal war nicht die erste, aber die bisher grösste ihrer Art in der Schweiz: Laut Schätzungen reisten rund 8000 Menschen an.

Viele der Teilnehmenden sind überzeugt, dass Politiker*innen und Konzernchef*innen manipulieren und lügen, dass Corona erfunden oder übertrieben wird. Wahlweise sehen sie Bill Gates, die «Mainstreammedien» oder die Rothschilds als Drahtzieher der Weltgeschicke. Auf jeden Fall: die da oben.

Jetzt, wo die Fallzahlen in der Schweiz erneut in die Höhe schnellen, gehen diese Menschen in der Schweiz, aber auch in Deutschland und Österreich wieder auf die Strasse, um gegen die Massnahmen zu protestieren. An der Demonstration tummeln sich neben besorgten Bürger*innen, Friedensaktivist*innen und Grünewähler*innen auch Antisemit*innen, Holocaustverharmloser*innen und organisierte Rechtsextreme.

Diese ideologische Melange mag widersprüchlich wirken, doch sie ist nicht neu.

Ein Mann, der die Widersprüche überbrückt, war an der Demonstration in Liestal nicht anwesend. Seine Fans nennen ihn stets «Dr. Daniele Ganser», seine Kritiker*innen nennen ihn den bekanntesten Verschwörungstheoretiker im deutschsprachigen Raum.

Wir trafen den selbsternannten Friedensforscher im August 2020 in Basel zu einem Gespräch. Er betrat den Raum an diesem Tag in sommerlichem Hemd und streckte die Hand aus. Wenige Wochen zuvor nahm er an einer Anti-Coronademo in Berlin teil, zu der rund 40’000 Menschen angereist waren. «Um mir das mal anzuschauen», sagte Ganser damals. Auf der Demonstration liefen laut Medien- und Polizeibericht auch Rechtsextreme mit. «Habe ich nicht gesehen», behauptete er in Basel. Ob ihm bewusst sei, dass seine Vorträge auch in Telegramchats von Rechtsextremist*innen geteilt werden? «Ich habe kein Telegram», antwortete er. Nach diesem Gespräch war Ganser für Stellungnahmen nicht mehr zu erreichen.

Wer ist dieser Mann? Was verbindet ihn, der seit Jahren die Glaubwürdigkeit von Forschungsinstituten und grossen Medien anzweifelt, mit den Menschen, die inzwischen in Berlin, Stuttgart, Wien, Liestal und Altdorf auf die Strassen gehen?

I.

Ehemalige Studierende und Kollegen Gansers erzählen auf Anfrage zuallererst von seinem charismatischen Auftreten. Es ist Herbst 2012 und die Studierenden lieben seinen Kurs. Seine Präsentationen, die er mit emotionalen Geschichten und witzigen Pointen spickt, sind im Vergleich zu den Vorlesungen anderer Profs und Assistent*innen fesselnd. Die St. Galler Studis kleben an seinen Lippen. Es geht um die Zukunft der Energiegewinnung.

In diesem Jahr wird Barack Obama zum zweiten Mal zum US-amerikanischen Präsidenten gewählt. Und in Nordafrika trägt der sogenannte «arabische Frühling» erste Früchte. Die Hoffnung auf eine freiheitliche Welt lässt die Menschen auf die Strasse gehen.

Gansers Vorlesungen sind so beliebt, dass einige aufgezeichnet und auf Youtube gestellt werden. Das soll allen dienen. Wie er im Gespräch in Basel betont: «Die Unis werden mit Steuergeldern finanziert, also sollen die Inhalte auch allen zugänglich sein». Er fügt an: «Mich inspirierten Mahatma Gandhi und Sophie Scholl.»

Der 1972 geborene Basler legte eine solide akademische Karriere hin: Studium und Promotion an der Universität Basel, Forschungsprojekt an der ETH Zürich, Berater für ein Bundesamt und einen Thinktank. Mit den «Mächtigen» geriet er schon früh aneinander. Insbesondere interessieren ihn geheime Machenschaften der NATO und der US-Geheimdienste.

Gansers Doktorarbeit dreht sich um Geheimarmeen der NATO im kalten Krieg und erscheint 2008 als Buch. Damit kommt er besonders in linken Kreisen gut an. Noam Chomsky schreibt eine begeisterte Rezension. Die deutsche Tageszeitung taz findet, das Buch sei «gründlich recherchiert» und «wohltuend nüchtern».

Spätere Bücher tragen die Titel «Illegale Kriege» und «Die Welt im Erdölrausch». Beide werden Bestseller. Ganser wird zu dieser Zeit manchmal vom Schweizer Fernsehen als «Experte für verdeckte Kriegsführung» eingeladen, Zeitungen bezeichnen ihn als «angesehenen Historiker» und verweisen auf seine Forschung.

Doch Gansers Wissenschafts-Karriere beginnt zu bröckeln. Von der ETH Zürich fliegt er 2006, nachdem er einen Artikel veröffentlicht, in dem er die These aufstellt, der Terroranschlag vom 11. September 2001 könnte eine von der US-Regierung geplante Operation gewesen sein. Die Uni Basel lehnt sein Vorhaben zur Habilitierung 2008 ab, weil es keinen wissenschaftlichen Standards genüge – und lädt ihn bald nicht mehr als Dozenten ein. Selbst sein Doktorvater wendet sich irgendwann ab.

Im Seminarraum in St. Gallen 2012 interessiert das noch niemanden. Zu unbekannt ist Ganser und zu beliebt sein Kurs. 

II.

An einem Montag im Frühjahr 2014 haben sich vor der Kaserne in Basel ein paar Dutzend Menschen zusammengefunden. Sie stellen ein Mikrofon auf, spannen ein Banner mit den Buchstaben «Friedensmahnwache» und hängen eine Peaceflagge an die rostbraune Mauer der Kaserne. Sie sind hier, um sich gegen einen vermeintlichen US-Angriffskrieg einzusetzen und Frieden mit Russland zu fordern.

Kurz zuvor war in der Ukraine der Krieg ausgebrochen. Die Öffentlichkeit ist zu diesem Zeitpunkt gespalten: Die einen sehen Russland als Aggressor, die anderen als Opfer der invasiven EU und der Nato. Es ist die gleiche Zeit, in der Menschen erstmals durch die Strassen Dresdens laufen und «Lügenpresse» rufen. Es ist der Beginn des grossen Misstrauens gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendern und gegenüber den grossen Zeitungen.

«Mahnwachen für den Frieden» finden scheinbar spontan in Deutschland in unzähligen Städten statt und ziehen ein grosses Publikum an. Irgendwann schwappt die «Bewegung» nach Basel vor die Kaserne. Beliebter Redner hier ist zu dieser Zeit der Antisemit Detlev Hegeler, Betreiber der Verschwörungsplattform «Wakenews».

Diese Misstrauensbekundungen werden vor allem in Deutschland zu einer Protestwelle. Verursacht von einer Allianz aus Bauchlinken und Rechtspopulist*innen, Esoteriker*innen und Friedensaktivist*innen, Antisemit*innen, Verschwörungsideolog*innen und besorgten Bürger*innen. Rechtsextreme schliessen sich zunehmend den Mahnwachen im ganzen deutschsprachigen Raum an. Der Anti-Establishment-Ton eint die Bewegung. Rechte Anheizer sorgen für Schwung.

Der wegen antisemitischer Äusserungen gefeuerte rbb-Journalist Ken Jebsen ist ein gern gesehener Gast an den Demos in Deutschland, genauso wie der rechte Publizist Jürgen Elsässer. Letzterer wettert in Redebeiträgen gern gegen die sogenannte «Finanzoligarchie», die von «Soros, Rockefeller und Rothschild» dominiert sei. Die Themen können wechseln, das Misstrauen gegen «die-da-oben» bleibt. 

Beim Publikum stösst Ganser auf stetig steigenden Zuspruch. Insbesondere seine antiamerikanischen und antiimperialistischen Positionen finden sowohl in Teilen des linken Spektrums als auch bei Rechten und Rechtsextremen Anklang. Ganser bezeichnet den Ukrainekonflikt 2014 als «US-gesteuerten Putsch» und fragt in einem Vortrag: «Können wir den Medien vertrauen?» Zur Klärung der Frage verweist er auf den russischen Propagandasender RT Deutsch und Jebsens KenFM – die ihn im Gegenzug gern interviewen und seine Vorträge verbreiten. 

Ganser ist zu dieser Zeit längst eine Berühmtheit. Stets im lockeren Hemd und mit offenem Lächeln im braungebrannten Gesicht federt er durch die Vortragssäle und verbreitet finstere Theorien. Nie zeichnet sich ein Runzeln auf seiner Stirn ab. Auf konfrontative Fragen reagiert er immer mit einem Schmunzeln.

Das Bewirtschaften dunkler Annahmen wird bei Ganser zum Unterhaltungsevent. Seine Veranstaltungen und Vorträge sind fast immer ausverkauft. Auf Youtube finden seine Vorträge ein Millionenpublikum. Und in den Kommentarspalten finden sich die Gleichgesinnten. Vereint im Gefühl der Ohnmacht und im Abgesang auf die Illusion der Demokratie.

«Ohne Youtube könnte ich nie so viele Leute erreichen», sagt Ganser. «Jederzeit schaut jemand ein Video von mir an, 24/7, auch in diesem Moment.»

Und wie kriegt Daniele Ganser das hin, dass ihm so viele Zuschauer*innen ihr geballtes Misstrauen anvertrauen? Was sind seine Tricks?

Der Historiker und ehemalige Kollege Gansers an der Universität Basel, Lucas Burkart, erklärt: «Ganser stellt keine Thesen im wissenschaftlichen Sinn auf, weil die müsste man belegen können. Er stellt Fragen, sucht willkürliche Hinweise und impliziert, irgendwas stecke im Hintergrund. Was genau, bleibt diffus. Dennoch ist es für sein Standing zentral, seinen Aussagen die ‹Aura der Wissenschaftlichkeit› zu verleihen.»

Der Experte für Verschwörungsideologien Michael Butter nennt das die «Ich stelle ja nur Fragen»-Strategie – eine besonders geschickte Manipulation, weil sie die Zuschauer*innen glauben lässt, sie seien selbst zu einem Schluss gekommen. «Ganser ist entweder ein Getriebener oder ein brillanter Geschäftsmann», sagt Butter. 

III.

2017 verliert Ganser nach einem umstrittenen Arena-Auftritt seinen letzten Lehrauftrag an der Uni St. Gallen. Seine Karriere als Lichtgestalt der Verschwörungsszene nimmt umso mehr Fahrt auf. Was Gansers Ansehen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft endgültig untergräbt, verleiht ihm bei seinen Fans noch mehr Glaubwürdigkeit.

Es gründen sich mehrere Facebook-Gruppen, um etwa ihre Solidarität mit Ganser zu bekunden. Einer schreibt: «Bringen Sie das Lügengebäude zum Einstürzen, die Zuneigung der Wahrhaftigen und Selbstdenkenden ist Ihnen mehr als Gewiss.»

Sein Buch, «Illegale Kriege, Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren», das im selben Jahr erschienen war, wird zu einem Bestseller. Auch auf Social Media ist er längst ein Star und seit 2017 sitzt er im redaktionellen Beirat der Verschwörungsplattform «Rubikon», die zurzeit Artikel veröffentlicht mit Titeln wie «Die fiktive Pandemie».

Von ganz rechts ist Ganser der Zuspruch gewiss. In einer Telegramgruppe mit dem Namen «Deutschlandtreff», in der sich Reichsbürger und Rechtsextreme vernetzen, werden Gansers Vorträge rege geteilt. Dort kommt besonders Gansers Behauptung gut an, Deutschland sei seit dem zweiten Weltkrieg von den USA «besetzt».

Auch der Schweizer Rechtsextreme Ignaz Bearth ist bald Ganser-Fan. Es läuft für den Basler Historiker und sein Geschäftsmodell der Misstrauensbewirtschaftung. Und in den USA nimmt die Präsidentschaft von Donald Trump richtig Fahrt auf. Die Washington-Post installiert einen Lügen-Zähler und die vier folgenden Jahre sind ein einziger Angriff auf den Rationalismus und auf die faktenbasierte Debatte. Während dieser Zeit gelingt es dem mächtigsten Mann der Welt, sich in weiten Teilen der Bevölkerung als Opfer des Establishments zu präsentieren. 

Und dann kommt Corona im Frühling 2020. Und Ganser sagt eine erstaunlich lange Weile lang: 

… nichts.

Erst gegen Herbst des Jahres 2020, nähert sich Ganser dem alles dominierenden Thema an. Er hält Vorträge mit den Titeln «Corona und die Angst», «Corona und die Medien» oder «Corona und China – eine Diktatur als Vorbild?»

Nach Coronaleugner klingt das noch nicht. Eher nach viel Metaebene und einer Annäherung ans Thema.

In einem Vortrag sagt er, dass jede Angst berechtigt sei: die «Angst vor dem Virus» genauso wie die «Angst vor der Diktatur». Am Ende resümiert er: «Zahlen können Angst machen.» Wichtiger als sich mit ihnen zu beschäftigen, sei es, sich zu fragen, was hinter den Kulissen ablaufe.

Mit der Zeit postet Ganser zunehmend Artikel auf Social Media, in denen die Massnahmen kritisiert werden oder die das Virus verharmlosen. Jedoch immer, ohne selbst Stellung dazu zu beziehen. Er verbreitet etwa den Dokumentarfilm «Corona», in dem Verschwörungsideolog*innen ihre Sicht auf die Pandemie darlegen. Oder ein Video des rechtspopulistischen österreichischen ServusTV, das er zitiert: «Wer sich kritisch zur Thematik Corona äussert, setzt sich dem Risiko aus, medial als Verräter oder Coronaleugner betitelt zu werden.»

Diese Vorgehen analysiert Michael Butter in einem Artikel für die Republik: «Da seine Facebook-Freunde die Attacken für ihn übernehmen, ist es für ihn leicht, sich selbst zurückzuhalten. Er gibt die Richtung vor, diskutiert aber nicht.»

Der Winterlockdown 2020 beendet Gansers kurze Vortragstour erneut, sein neues Thema, das grundsätzliche Misstrauen gegen Corona und die Vertrauten, hat er aber gefunden.

IV.

Es ist Frühjahr 2021, Daniele Ganser sitzt vor einem Bücherregal und schaut besonnen in die Kamera. Die ganze Welt steckt seit über einem Jahr in einer Pandemie und viele Menschen suchen nicht mehr nur eine Erklärung für das Ganze, sondern auch eine Lösung. Gansers Vortragsreisen sind eingestellt. Aber er hat eine zeitgemässe Pandemielösung: Sein eigens auf die Beine gestellter Onlinekurs mit dem Titel «Innerer Frieden – Peacemaker 2».

«Es ist eine Reise, die wir zusammen unternehmen können: Manchmal ist man beim Krieg, dann ist man bei der inneren Achtsamkeit, wie war das nochmal mit dem Giftgas?, kommt ein Überwachungsstaat? und wie kann eigentlich das Bewusstsein sich selber erfahren?», sagt Ganser im Einführungsvideo zum Kurs.

In dreissig Videos will Ganser den Zuhörer*innen beibringen, wie sie mit ihrem «Inneren auf Äusseres reagieren und so eine Welt des Friedens schaffen können». Die einzelnen Lektionen drehen sich um Themen wie «Wald», «Diktatur», «PCR-Test», «Gandhi» oder «NATO-Osterweiterung». Wie diese Themen zusammenhängen, wird auf der Werbeseite für den Kurs nicht ersichtlich. Am Ende gibt es einen Test inklusive Zertifikat, um zu bezeugen, dass man den inneren Frieden gefunden habe.

Die Teilnahme kostet 176 Euro.

Ganser macht unter anderem über seinen neu ins Leben gerufenen Telegramkanal Werbung für den Onlinekurs. Er wird aber auch in anderen Telegramkanälen rege geteilt und verbreitet. Etwa im Kanal mit dem Namen «Baselwach2020». Dort vernetzen sich Corona-Skeptiker*innen seit vielen Monaten und tauschen Informationen aus. Die Betreiber des Kanals sehen in Ganser einen Verbündeten, nehmen ihn gegen Kritik in Schutz und machen Werbung für seine Kurse.

Auf «Baselwach2020» wurde im März auch zur Teilnahme an der Liestal-Demo aufgerufen. Am 20. März schrieben die Kanalbetreiber: «Grüsse aus Liestal – wir sind viele und wir werden immer mehr!»