bajour.ch. Es ist noch nicht so lange her, da wurden Gegner im Joggeli abfällig als «Juden» bezeichnet. Didi-Kolumnist Benedikt Pfister erinnert sich nicht gern an diese Zeit. Auf dem fünften Bolzplatz erklärt er, weshalb wir heute alle Wellenbrecher sein müssen.
75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz diskutiert Europa über eine neue Welle von Antisemitismus, die über den Kontinent rollt. Davon bleibt auch die Schweiz nicht verschont.
Der Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus zählt für das Jahr 2019 523 antisemitische Ereignisse in der Deutschschweiz. Hauptsächlich geht es dabei um antisemitische Aussagen in den sozialen Medien.
Die Autor*innen des Berichts rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. «Antisemitismus an Schulen und auf Sportplätzen wird oft hingenommen, ohne dass jemand interveniert oder eine Fachstelle einschaltet», heisst es im Bericht. Tatsächlich sind antisemitische Beleidigungen im Fussball Realität, wie Beispiele zeigen.
Da ist jene Geschichte vor fünf Jahren. Luzerner Fans jagten eine als «Jude» verkleidete Person durch St. Gallen. Dabei sollen sie geschrien haben: «Sie werden fallen, die Juden von St. Gallen». Erstaunt von den öffentlichen Reaktionen, die diese Aktion auslöste, rechtfertigten sich einige Luzerner Fans erschreckend unreflektiert. Die Jagd des «Juden» sei nicht antisemitisch gemeint gewesen, sondern lediglich Ausdruck der langen Feindschaft zwischen den beiden Fanlagern.
Das ist typisch. Statt sich zu entschuldigen, wird versucht, die antisemitische Aktion zu legitimieren. Der «Jude» wird als Schimpfwort missbraucht, um die gegnerische Mannschaft oder die gegnerischen Fans zu demütigen. «Jude ist die grösste Beleidigung im Fussball», stellte der Historiker und Politologe Florian Schubert 2019 im Gespräch mit «Die Zeit» fest.
Es ist richtig, wenn Medien antisemitische Aktionen im Fussball nicht tolerieren, sondern an die Öffentlichkeit bringen. Kritische Fussballfans sind auf das Thema sensibilisiert und möchten solche Ereignisse aus den Stadien verbannen.
Entsprechend hellhörig reagierten FCB-Fans, als das katholische Pfarrblatt «Kirche heute» im Mai 2019 schrieb: «Ist die Muttenzerkurve gegen den Schiedsrichter aufgebracht, schreit sie ‹Jude, Jude, Jude›». Das Pfarrblatt zitierte einen Historiker, der in der katholischen Pfarrei Oberdorf einen Vortrag zum Thema Antisemitismus gehalten hatte.
Ich erinnere mich sehr gut an ähnliche Gesänge in der Muttenzerkurve wie «Luzern, Luzern, Juden Luzern» oder «Eine U-Bahn, eine U-Bahn, eine U-Bahn bauen wir / von Luzern bis nach Auschwitz, eine U-Bahn bauen wir». Allerdings war dies in den 1990er-Jahren.
Der Rechtsextremismus und Antisemitismus war in Basel in den 1980er-Jahren mit Gruppierungen wie der Munotszene Schaffhausen oder der Blue-Red Army in die Kurve eingezogen. Spätestens mit dem Umzug ins neue Joggeli 2001 und der neuen Ultras-Bewegung emanzipierte sich die Kurve aber von rechtsextremem Gedankengut.
Der Artikel in «Kirche heute» führte deshalb zu einem erhöhten Postverkehr in der Mailbox der Redaktion des Pfarrblatts.
Auch die «Fanarbeit Basel» nahm pointiert Stellung: «Wir bewegen uns seit über 15 Jahren in den Fansektoren und kennen sämtliche Fangesänge und Sprechchöre der Muttenzerkurve. Deshalb legen wir mit absoluter Sicherheit und Überzeugung fest, dass weder heute noch in den vergangenen Jahren in der Muttenzerkurve antisemitische Sprechchöre skandiert werden und auch keine Gesänge mit rassistischem, antisemitischem, sexistischem oder homophobem Inhalt zu hören sind».
«Kirche heute» veröffentlichte die Stellungnahme und präzisierte: Der Historiker sei falsch widergegeben worden. Er habe mit der Aussage auf Ereignisse vor 30 Jahren angespielt.
Viel Lärm um nichts also? Antisemitisches Gedankengut ist in Basel zwar im Stadion kein öffentlich wahrnehmbares Thema mehr, aber nicht einfach aus den Köpfen verschwunden.
Vor allem Ereignisse aus dem Jahr 2007 sind in schlechter Erinnerung geblieben. Vor dem Cupfinal gegen den FC Luzern sangen zahlreiche FCB-Fans in der Berner Altstadt unter anderem «Luzern, Luzern, Juden Luzern». Im gleichen Jahr zeigte die «Rundschau» im Schweizer Fernsehens FCB-Fans in einem Fanzug, die «Sieg Heil!» schrien und den «U-Bahn-Song» intonierten.
Der FCB reagierte mit einer Arbeitsgruppe, in der sich Vertreter des Vereins und Fans austauschten. Seither sind antisemitische Ereignisse dieser Grössenordnung in der Fanszene nicht mehr aufgetreten, wie ich in Gesprächen mit kritischen FCB-Fans, teilweise auch mit jüdischem Hintergrund, feststellte.
Auch auf den Bolzplätzen des Amateurfussballs sei keine Tendenz zu mehr antisemitischen Ressentiments spürbar, sagt Jeremy Weill. Der 29-Jährige sitzt im Vorstand der Israelitischen Gemeinde Basel und stürmt für den Fussballclub des Jüdischen Turnvereins. Gegenüber Spielern des FC JTV, der in der 5. Liga spielt, kämen antisemitische Beleidigungen äussert selten vor, sagt Weill.
Aber es gibt sie. Bei einem Spiel gegen das 5. Liga-Team eines der grösseren Fussballclubs in der Region kam es vor wenigen Jahren zu unschönen Szenen. Die Spieler des FC JTV hörten Beleidigungen wie «Ab ins Gas» oder «Euch hett me vergässe» und Anspielungen auf den 2. Weltkrieg.
Der FC JTV beschwerte sich danach beim Verband. Seither spielen die beiden Teams nicht mehr in der gleichen Gruppe. Das krasse Ereignis sei aber ein absoluter Einzelfall, sagt Weill.
Es scheint leider eine Utopie zu sein, Vorurteile und antisemitische Stereotypen aus allen Köpfen zu verbannen. Sollte die neue Welle von Antisemitismus in Europa aber die Fussballplätze in Basel erreichen, haben wir alle die Aufgabe, Wellenbrecher*innen zu sein.