«Die Pandemie führte zu mehr Extremismus und Gewalt»

Beobachter. In Deutschland haben tausende Polizisten mehrere Personen verhaftet, die Teil einer terroristischen Reichsbürger-Gruppe sein sollen. Im Interview sagt der Sozialwissenschaftler Marko Ković, wie gefährlich solche Verschwörungsideologien sind und ob es auch in der Schweiz eine Anhängerschaft gibt.

Beobachter: Herr Ković, man spricht vom grössten Anti-Terror-Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik. Wie überraschend kamen diese Nachrichten für Sie?
Marko Ković: Einerseits sehr überraschend, anderseits waren sie auch erwartbar. Überraschend, weil ich nichts von dieser Aktion gewusst habe und das Ausmass der Razzia krass ist. Mit dem deutschlandweiten Einsatz und der grossen Menge an Personal. Gleichzeitig war es nicht unwahrscheinlich, dass es in der Reichsbürgerszene zu einer derartigen Radikalisierung kommt. 

Besonders erschreckend ist, dass unter den Festgenommenen ehemalige Soldaten, Polizisten oder eine Richterin sind. Wie aussergewöhnlich ist das?
Wir denken, Verschwörungsideologien betreffen nur «einfache Leute», die auf der Verliererseite der Gesellschaft stehen. Das stimmt tendenziell auch. Man weiss, dass Menschen mit tiefem sozioökonomischen Status eher anfällig für Verschwörungsideologien sind. Das ist psychologisch auch völlig nachvollziehbar, weil sie dort Antworten finden auf Fragen, die ihre Lebenssituation betreffen. Gleichzeitig weiss man aus der Forschung, dass die Vielseitigkeit von Verschwörungserzählungen stärker ist als die sozioökonomischen Faktoren.

Das bedeutet?
Dass das Verschwörungsnarrativ durchaus von Leuten genutzt wird, die in einer Machtposition sitzen oder die es eigentlich besser wissen sollten. Ich erinnere an Donald Trump in den USA oder Bolsonaro in Brasilien. 

Reichsbürger hat man in der Vergangenheit belächelt und sich über sie lustig gemacht. Hat man ihr Gefahrenpotenzial unterschätzt?
In Deutschland hat der Verfassungsschutz das Gefahrenpotenzial erkannt und die Szene beobachtet. Doch es stimmt: In der öffentlichen Debatte machte man sich über die Reichsbürger lustig und dachte, die lebten in einer anderen Realität. Diese Verharmlosung und das Lächerlichmachen finde ich falsch. Diese Menschen glauben sehr stark an ihre Ideologie. Und diese dreht sich nicht um Reptilienmenschen oder die Mondlandung vor 50 Jahren. Sondern es geht um die politischen Verhältnisse im Hier und Jetzt.

«Es gibt Berichte und Beobachtungen, dass die Reichsbürgerszene nun auch in der Schweiz am Aufkeimen ist. Offenbar sind sie vor allem in der Ostschweiz in der Region St. Gallen aktiv.»

Wie gefährlich ist diese Szene?
Die Vergangenheit zeigt, dass die Reichsbürgerschaft eine der gefährlichsten Verschwörungsideologien weltweit ist. In den USA heisst sie Sovereign-Citizen-Bewegung. Das FBI hat sie als eine der grössten Terrorgefahren auf dem Radar

Gibt es in der Schweiz eine vergleichbar gefährliche Gruppierung?
Meiner Einschätzung nach nein. Aber es gibt Berichte und Beobachtungen, dass die Reichsbürgerszene nun auch in der Schweiz am Aufkeimen ist. Offenbar sind sie vor allem in der Ostschweiz in der Region St. Gallen aktiv. 

Extremismusexperten in Deutschland sagten, durch die Pandemie und nun auch den Krieg in der Ukraine hätten sich solche Gruppierungen zusätzlich radikalisiert. Auch in der Schweiz?
Was weltweit passiert, kann in der Schweiz nicht anders sein. Es gibt mittlerweile gute Forschungen zu diesem Thema. Sie zeigen, dass die Radikalisierung in den Pandemiejahren Proteste gegen Massnahmen Die Welt der Corona-Skeptiker sehr zugenommen hat und zu Extremismus und mehr Gewaltbereitschaft führt. In der Schweiz müssen wir momentan aber keine Angst vor einem Anschlag oder Gewalt in grossem Ausmass haben. Die Dynamiken sind zwar dieselben, aber in einer viel kleineren Dimension.

«Eine radikale Szene, die vor der Pandemie wenig anschlussfähig war, weil die Botschaften zu krass waren, konnte inmitten des Querdenkertums plötzlich Brücken bauen.»

Was wurde aus dem radikalen Teil der Corona-Bewegung?
Sie haben sich eine Community geschaffen. Mit ihren eigenen Strukturen, eigenen Medien und Plattformen, die relativ beständig sind. Das, was während der Pandemie aufgeflammt ist, konnten sie in geleitete Bahnen bringen. Für mich ist das kein gutes Zeichen. Es bedeutet: Was emotional aufgekocht war, hat jetzt eine gewisse Zukunftsfähigkeit erreicht. 

In Deutschland haben Reichsbürger an Corona-Demonstrationen sehr aktiv Mitglieder angeworben. Ähnlich hat es in der Schweiz die Neonazigruppe «Junge Tat» probiert. Weiss man, wie erfolgreich sie damit war?
Tatsächlich ging die «Junge Tat» sehr geschickt vor. Sie haben sich bei den Protesten mit anschlussfähigen Botschaften in diese Wut und die hitzige Debatte eingeklinkt. Dadurch konnten sie sich als Akteur etablieren und eine Plattform schaffen, um neue Leute für ihre Hassbotschaften zu erreichen. Das sind dieselben Muster, die man von extremistischen Gruppen im Ausland kennt. Eine radikale Szene, die vor der Pandemie wenig anschlussfähig war, weil die Botschaften zu krass waren, konnte inmitten des Querdenkertums plötzlich Brücken bauen. Konkret gibt es bei der «Jungen Tat» bisher aber keine quantifizierbare Evidenz, inwiefern sie von den Protesten profitieren konnte. 

Gibt es in der Schweiz die Gefahr einer terroristischen Gruppierung, die bis in die höchsten Ämter Mitglieder hat? 
Diese Gefahr sehe ich im Moment in der Schweiz als sehr gering an. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass Verschwörungsideologien kein Randphänomen sind, dem nur ganz komische Vögel anhängen. Sie können auch «normale» Menschen in einen Sog ziehen. Das weiss man beispielsweise aus dem Kontext der Satanic Panic. Ihre Anhängerschaft reicht von Polizisten bis zu Leitern von Psychiatrien. 

«In der Geschichte der Menschheit ist die Demokratie eine Ausnahmeerscheinung. Es gibt sie noch nicht so lange. Auch in der Schweiz. Und sie ist etwas sehr Zerbrechliches.»

Die Reichsbürger weisen auch eine gewisse Schnittmenge zur AfD auf. Sehen Sie Parallelen zu Gruppierungen in der Schweiz, die an Schweizer Parteipolitik anknüpfen können?
Absolut. Die SVP hat sich in der Pandemie als querdenkerische Partei positioniert. Nicht zuletzt mit dem Nochbundesrat Ueli Maurer. Nicht wenige SVP-Exponenten und -Exponentinnen haben ein verschwörungsideologisches Narrativ wiedergegeben und sich einem gewissen Publikum angebiedert, um damit politisch punkten zu können. Diese Verbindung halte ich für gefährlich. Vielleicht ist sie sogar noch gefährlicher als in Deutschland. Die AfD hat nicht dieselbe politische Relevanz in Deutschland, wie sie die SVP in der Schweiz hat. 

Wie anfällig sind die Demokratien in Europa für solche Gefahren? 
In der Geschichte der Menschheit ist die Demokratie eine Ausnahmeerscheinung. Es gibt sie noch nicht so lange. Auch in der Schweiz. Und sie ist etwas sehr Zerbrechliches. Eine Demokratie funktioniert Die Schweiz ist top aber nicht am besten Warum Schweden die bessere Demokratie ist nur, wenn genug Leute daran glauben. Finden sich genug, die sie ablehnen, kann es sehr schnell sehr kritisch werden. Dafür muss noch viel stärker ein Bewusstsein geschaffen werden. Wir müssen darüber sprechen, wie wir verhindern können, dass solche Radikalisierungen überhaupt stattfinden. Und dafür sorgen, dass auch in Krisenzeiten unser demokratischer Kompass stabil bleibt. 


Zur Person

Marko Ković ist Sozialwissenschaftler und beschäftigt sich mit gesellschaftlichem Wandel. Er schreibt, podcastet und forscht vor allem zu Verschwörungsideologien, Radikalisierung, Extremismus und Hass.