Neue Zürcher Zeitung. Die rechtsextremen Aktivitäten in der Schweiz häufen sich. Das ist kein Zufall.
Eine angebliche Wandergruppe schreckt Anwohnerinnen und Anwohner am Samstagabend in Rüti auf – mit Gegröle, rechtsextremen Parolen und lauter Musik. Auf Tonaufnahmen des Anlasses ist zu hören, wie ein Sänger auf einer Akustikgitarre ein Lied mit dem Titel «Der Tag, an dem das deutsche Herz Flammen schlägt» zum Besten gibt. Am Ende sagt er zum Publikum: «Schreibt das auf!» Dazwischen sind «Sieg Heil»- und «Ausländer raus!»-Rufe zu hören.
Das braune Fest in einem Pfadiheim am Rande der sonst ziemlich beschaulichen Zürcher Oberländer Gemeinde hat alle überrumpelt – die Waldhütten-Besitzerin, die Behörden, aber auch die Polizei. Bis zu Beginn des Anlasses gelang es den Rechtsextremen, das Treffen in Rüti geheim zu halten. Und das, obwohl die Behörden in St. Gallen zuvor Wind von einer geplanten Zusammenkunft bekommen und die Veranstaltung verboten hatten.
Daraufhin verlegten die Rechtsextremen das heimlich vorbereitete Konzert kurzfristig nach Rüti. Die St. Galler Polizei informierte die umliegenden Kantone zwar, dennoch konnte der Anlass ennet der Kantonsgrenze nicht verhindert werden.
Erst Anwohner alarmierten schliesslich die Zürcher Einsatzkräfte. Als die Polizisten beim Pfadiheim eintrafen, stiessen sie auf über 50 Neonazis aus der Schweiz und Deutschland. Sie nahmen die Personalien der Anwesenden auf, zwei Dutzend Teilnehmer wiesen sie weg. Die übrigen Neonazis nächtigten vor Ort, weil sie zu betrunken waren, um noch nach Hause zu gehen.
Spuren führt ins militante «Blood & Honour»-Netzwerk
Inzwischen wird immer klarer, wie der Anlass organisiert wurde – und wer daran teilnahm. Es handelt sich um den ersten grösseren Anlass von Rechtsextremen in der Schweiz nach Aufhebung der Corona-Massnahmen.
Die Spur führt zum militanten «Blood & Honour»-Netzwerk. Laut Informationen des antifaschistischen Recherche-Kollektivs Antifa Bern nahmen bekannte deutsche Exponenten aus der Szene an dem Anlass teil. Auch Anwohner in Rüti berichten von auffällig vielen Fahrzeugen mit Kennzeichen aus dem Nachbarland.
Nicht erst seit dem Vorfall in Rüti zeigt sich, dass die rechtsextreme Szene in der Schweiz wieder deutlich aktiver geworden ist. Zudem macht das braune Treffen in Rüti laut Sicherheitskreisen und Szenekennern sichtbar, wie beliebt das Land als Rückzugs- und Versammlungsort ist, vor allem für Rechtsextreme aus Deutschland.
Laut Antifa Bern war in Rüti eine Band zu Gast, die innerhalb der deutschsprachigen rechtsextremen Szene zu den bekanntesten Musikgruppen gehört. Ihr Name: Oidoxie. Ein Foto zeigt den Gitarristen der Band vor dem Pfadiheim, dahinter ist auch das Banner der Gruppe sichtbar.
Die Dortmunder Rechtsrocker sind seit 1995 aktiv, glorifizieren rechten Terror, weisen aber auch gute Verbindungen in die Schweiz auf – unter anderem zum mehrfach verurteilten Neonazi Kevin G., der selbst aus dem Zürcher Oberland stammt.
Oidoxie weisen zudem Verbindungen zu Combat 18 auf, auch «Kampftruppe Adolf Hitler» genannt. Die Gruppierung wurde in Deutschland verboten, da sie sich gegen die verfassungsmässige Ordnung richtet. Das Netzwerk ist allerdings weit gespannt. Und international. Auch in der Schweiz ist Combat 18 gut vernetzt.
Pfadi prüft Massnahmen bei der Anmeldung
Die Waldhütte in Rüti war nicht das einzige Lokal, das die Rechtsextremen für das Wochenende gebucht hatten. Für ihre Anlässe organisieren sie meist mehrere Orte, um sich mindestens an einem ungestört treffen zu können. Dasselbe Vorgehen wandten sie bereits in der Vergangenheit immer wieder an.
Am Wochenende wurde auch im Kanton St. Gallen ein Veranstaltungsort gemietet. Als die Kantonspolizei vom geplanten Treffen des rechtsextremen Netzwerks erfahren hatte, telefonierte sie sämtliche Veranstalter ab und stiess so auf ein Lokal in Kaltbrunn.
Der Vermieter habe sich kooperativ gezeigt, sagt Hanspeter Krüsi, Medienchef der St. Galler Kantonspolizei. Er war offenbar nicht darüber informiert, wer sich da bei ihm treffen sollte. Der Mann sei von dem rechtsradikalen Veranstalter, mit dem er den Mietvertrag abgeschlossen habe, getäuscht worden, sagt Krüsi. Dieser habe das Lokal zwar vermutlich unter seinem tatsächlichen Namen reserviert, aber unter einem anderen Vorwand. Was vorgeschoben wurde, wollte Krüsi aus ermittlungstaktischen Überlegungen nicht sagen.
Der Mietvertrag in der St. Galler Gemeinde wurde schliesslich annulliert. Die Kantonspolizei sprach gegen den rechtsextremen Organisator ein Veranstaltungsverbot im ganzen Kanton aus. Dabei wurde erstmals der Nachtrag zum Polizeigesetz angewendet, welcher es der Kantonspolizei St. Gallen ermöglicht, ein Veranstaltungsverbot auszusprechen, wenn die demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung oder das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung durch die Veranstaltung massgeblich beeinträchtigt wird.
Daraufhin wichen die Neonazis auf die Waldhütte im nahe gelegenen Rüti aus.
Dort tarnten sich die Rechtsextremen als Wanderer. In der entsprechenden Waldhütte war eine «Wandergruppe Züger» von Freitag bis Sonntag angekündigt. Einige Neonazis dürften sich allerdings schon zuvor besammelt haben. Jedenfalls wurde bereits am Donnerstag ein Aufmarsch von Rechtsextremen am Bahnhof in Bubikon beobachtet.
In einer Stellungnahme hielt die Verwaltung des betroffenen Pfadiheims in Rüti auf ihrer Website fest, die Neonazis hätten sich unter falschem Namen und falschen Angaben in der Waldhütte eingemietet.
«Wir waren bestürzt, als wir vom Vorfall gehört haben», sagt Pfadi-Züri-Sprecherin Jelena Hess auf Anfrage. Die Pfadi lehne die Ansichten der Gruppierung ab und sei froh, dass die aufgebotenen Einsatzkräfte die Situation vor Ort geklärt hätten. Die Waldhütte sei eigentlich Jugendlichen, Schulen und Pfadis vorbehalten. Hess sagt, man prüfe deshalb, ob es ein anderes Anmeldeprozedere brauche, um Vorfälle wie denjenigen vom Wochenende zu verhindern.
Obwohl nur zweite Wahl, dürfte es dennoch kein Zufall sein, dass die «Blood & Honour»-Mitglieder Rüti für ihre Zusammenkunft ausgewählt haben. Im Zürcher Oberland verfügen sie über einige etablierte Strukturen, die bereits in der Vergangenheit funktionierten.
Zum Beispiel im Fall des grossen Neonazi-Konzerts von 2016 in Unterwasser. Auch dort führten die Spuren ins Zürcher Oberland. Den Mietvertrag für die Halle hatte ein aus Thüringen stammender Mann abgeschlossen, der damals in Rüti wohnte. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung im April 2019 fanden die Ermittler unter anderem ein Sturmgewehr, eine Maschinenpistole und 2000 Patronen. Der Ostdeutsche wurde des Landes verwiesen und zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten verurteilt.
Störaktion an der Pride
Am letzten Wochenende veranstalteten rechtsextreme Kreise nicht nur ein «Blood & Honour»-Konzert, sondern sorgten auch mit einer Störaktion an der Zürich Pride für Aufregung. Mehrere vermummte Männer versuchten, mit einem Kreuz in die Kirche St. Peter und Paul im Kreis 4 zu gelangen. Dabei filmten sie ihre Aktion. Doch Gottesdienstbesucher stellten sich ihnen in den Weg.
Die Aktion scheiterte, die Vermummten rannten davon. Das Kreuz liessen sie in der Kirche stehen. Die Verantwortlichen der Pride alarmierten die Polizei. Diese hat inzwischen Ermittlungen aufgenommen. Hinter der Störaktion dürften Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Junge Tat stecken, die in den vergangenen Monaten immer wieder für Aufsehen sorgten.
Ist es ein Zufall, dass die Aktion am gleichen Wochenende stattfand wie das Konzert?
Ein direkter Zusammenhang besteht zwar nicht. Allerdings ist gut möglich, dass Exponenten der Jungen Tat das Neonazi-Konzert in Rüti besuchten. Denn personelle Verbindungen zwischen einzelnen Exponenten bestehen durchaus, Mitglieder der Jungen Tat sind teilweise auch ins «Blood & Honour»-Netzwerk eingebunden. Diese Vernetzung zeigte sich schon bei früheren rechtsextremen Aufmärschen wie der Nazifrei-Demo in Zürich.
Nachrichtendienst warnt vor Erstarken
Der Nachrichtendienst des Bundes warnte in seinem letzten Sicherheitsbericht vor dem Wandel der rechtsextremen Szene. Während früher Veränderungen innerhalb des Milieus diskret erfolgt seien, würden diese nun öffentlich via soziale Netzwerke kommuniziert. Und das bewusst provozierend. Auf Profilen, die öffentlich zugänglich sind, würden zudem häufiger Propagandavideos und Fotos von Anlässen gepostet, hält der Nachrichtendienst fest.
Insgesamt sei es zu Verbindungen der «motiviertesten und radikalsten Personen» gekommen. Und das habe zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage geführt, denn: Die Attraktivität von Schusswaffen und Kampfsportarten sei in der Szene anhaltend hoch. Auch die Fähigkeiten in diesen Bereichen würden zunehmen.
Gefahr droht laut NDB jedoch vor allem von Einzelgängern, also von solchen, die keiner rechtsextremen Gruppierung angehören. Denn trotz ihrem Gewaltpotenzial übten Neonazi-Gruppen eine gewisse soziale Kontrolle über ihre Mitglieder aus. Falls also gewaltbereite Exponenten aus einer solchen Gruppierung rausfallen und auch woanders keinen Anschluss finden, besteht gemäss Geheimdienst eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie sich im Stillen noch mehr radikalisieren.
Die Behörde stellt zudem fest, dass der Austausch und die Vernetzung zwischen jungen, strafrechtlich bisher meist unauffälligen Aktivisten zunimmt. Vor allem auch in Bezug auf ältere Rechtsextreme, die erfahren sind in Strafverfolgungen und Konfrontationen mit Antifaschisten. Davon könnten die Jüngeren profitieren.