Blick.
Ein Bericht von Amnesty International brandmarkt Israel als Apartheidstaat. Damit wird die Organisation zur Verbündeten von antisemitischer Propaganda, schreibt Lukas Bärfuss.
Vergangene Woche veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ihren Bericht über Israel. Er will darlegen, in welcher Weise Israel die Rechte der palästinensischen Bevölkerung verletzt. 280 Seiten, zweihunderttausend Worte der Gewalt, der Grausamkeit und der Verzweiflung. Zweihunderttausend Worte, über die ein Gespräch zu führen notwendig und lohnend wäre. Ein Gespräch, das den Verantwortlichen in Erinnerung rufen sollte, wie unerträglich die Situation der Menschen in den besetzten Gebieten ist und wie dringend ihre Lage verbessert werden muss.
Doch dieses Gespräch wird nie geführt werden. Die zweihunderttausend Worte werden in der Öffentlichkeit nicht das geringste Echo haben. Denn ein Wort in diesem Bericht, ein einziges nur, hat einen solchen Donnerhall, dass alle anderen unhörbar werden. Es ist jenes Wort, das Amnesty International in den Titel gesetzt hat, das Wort Apartheid.
Die Apartheid herrschte in Südafrika zwischen 1948 und 1994. Dieses rassistische System teilte Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe in verschiedene Klassen ein. Weisse erhielten Privilegien, Nicht-Weisse wurden durch eine ganze Reihe von Gesetzen von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Der «Immorality Act» etwa verbot sexuelle Beziehungen zwischen Weissen und Nicht-Weissen, und der «Reservation of Separate Amenities Act» wies Einrichtungen der öffentlichen Infrastruktur bestimmten Gruppen zu.
Ist Amnesty International eine antisemitische Organisation?
Die Verfassung von April 1994 brachte Südafrika die Demokratie und das Ende der Apartheid. Im Völkerrecht existiert sie weiterhin. Nach dem Römer Statut ist sie ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und ein Staat, der die Apartheid als Verfassungsgrundlage hat, verliert seinen Platz in der Völkergemeinschaft – und implizit sein Existenzrecht. Deshalb ist der Vorwurf, Israel betreibe Apartheid, so unerhört. Denn nach der «Stockholmer Erklärung», die von 34 Staaten, darunter auch der Schweiz, unterzeichnet wurde, besteht eine Form des Antisemitismus in der Aberkennung «des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen».
Ist Amnesty International also eine antisemitische Organisation? Sicher ist: Israel ist keine Apartheid. Es gibt keine gesetzliche Diskriminierung der nicht-jüdischen Bevölkerung. Vor dem Gesetz sind arabische Bürger gleichgestellt. Als Minderheit leiden sie unter gesellschaftlichen Diskriminierungen – wie Minderheiten in vielen anderen Ländern auch.
Spezifisch ist die Lage in den besetzten Gebieten. Die israelische Siedlungspolitik widerspricht dem Völkerrecht. Ein breiter internationaler Konsens betrachtet die Besatzung als wesentliches Hindernis für den Frieden, eine Reihe von Uno-Resolutionen hat sie verurteilt. Wie absurd der Vorwurf der Apartheid ist, zeigt alleine die Tatsache, dass mit Mansour Abbas ein Vertreter der konservativ-arabischen Raam-Partei in der israelischen Regierung sitzt, und es stellt sich die Frage, was Amnesty International zu dieser Anschuldigung bewogen haben könnte.
Diskussionen über Kolonialismus sind nötig, aber …
Die Beschäftigung mit dem Kolonialismus, mit den Verbrechen und den Völkermorden europäischer Staaten, hat sich in den letzten Jahren auf vielen Ebenen intensiviert. An den Universitäten haben die Postcolonial Studies wichtige und neue Erkenntnisse über die wirtschaftlichen Systeme der Ausbeutung gewonnen. In vielen europäischen Ländern, in Frankreich, in Deutschland und sogar in der Schweiz, stellt man sich vermehrt der kolonialen Vergangenheit, die durch die Sklaverei einen Teil unseres Wohlstands begründeten und unsere Museen mit Raubgut füllten. Bis heute leiden die betroffenen Länder an den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Folgen dieser mörderischen Politik. Diese schmerzhafte Diskussion ist so dringend wie notwendig, nicht nur, was die Vergangenheit betrifft. Die globalen Herausforderungen, denen unsere Gesellschaft gegenübersteht, brauchen eine globale Verständigung über die gemeinsame Geschichte.
Leider wird diese so wichtige Auseinandersetzung immer stärker von reaktionären Positionen und von antisemitischer Propaganda geprägt. So versuchen manche Historiker herzuleiten, dass die Shoa, die industrielle Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten, ihren Ursprung in der kolonialen Vergangenheit habe und nur einer von vielen Genoziden sei. Der Relativierung folgt die Rechtfertigung auf dem Fuss.
So fantasiert der australische Historiker A. Dirk Moses, das Nazi-Reich sei «ein kompensatorisches Unternehmen» gewesen, das «permanente Sicherheit für das deutsche Volk anstrebte». Nie wieder «sollte das Volk eine Hungersnot erleiden müssen, wie sie es in der Blockade der Alliierten während des Ersten Weltkriegs erlebt hatten». «Viele Deutsche» hätten den Juden und den Linken die Schuld an der Niederlage von 1918 gegeben. Die NS-Diktatur und die Vernichtungslager als Notwehr gegen eine Politik der Alliierten und im selben Atemzug der performative Ausschluss von Linken und Juden vom Deutschsein: Das ist die rhetorische Linie dieser revisionistischen Geschichtspolitik, die oft auch Verschwörungstheorien propagiert.
Teil einer perfiden Strategie
Wer die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage stelle, so Moses, werde von «erinnerungspolitischen Glaubenswächtern» als Häretiker betrachtet. Die Forschung werde zensiert. Die kritiklose Solidarität der Bundesrepublik mit Israel sei eine Strategie, um die kolonialen Verbrechen Deutschlands zu verleugnen. In dieser verqueren Logik wird der Staat Israel zu einem Komplizen und selbst zu einem kolonialen Projekt – er verliert erneut seine Existenzberechtigung.
Eine andere, häufig angewandte und ebenso perfide Strategie bedient sich einer Form des Gaslighting, der manipulativen Gleichsetzung unterschiedlicher Begriffe. Der einflussreiche Politologe Achille Mbembe behauptet in seinem Traktat «Politiques de l’inimitié» von 2016, es gebe in gewissen Bewegungen, zu denen er auch der Kolonialismus zählt, ein bewusstes oder unbewusstes Verlangen nach Omnipotenz, Zerstörung oder Verfolgung. Fixpunkte dieses Verlangens seien unterschiedliche Objekte: «In der Vergangenheit», so Mbembe, «waren die bevorzugten Namen dieser Objekte Neger und Jude. Heute haben Neger und Juden andere Namen – Islam, Muslim, Araber, Ausländer, Immigrant, Flüchtling, Eindringling, um nur einige zu nennen.»
Mbembe unterstellt, dass die heutigen Muslime und die Araber dieselben Verfolgungen zu erleiden hätten wie ehemals die Juden und die Menschen, die man mit dem N-Wort belegte. Das ist historisch falsch. Im Gegensatz zu den Juden wurden Muslime noch nie als Muslime zum Ziel eines genozidalen Projektes. Und sprachlich setzt Mbembe eine abwertende Fremdbezeichnung mit einer neutralen Eigenbezeichnung gleich und etabliert «Jude» als Schimpfwort.Thomas MeierErinnert an den Holocaust: Das Konzentrationslager Auschwitz
Das sind leider keine Sprachspiele, sondern ist höchst erfolgreiche Manipulation. In der neusten Ausgabe des Dudens, immerhin das Referenzwerk für die deutsche Sprache, platzierte die Redaktion beim Eintrag «Jude» einen Hinweis, «dass die Bezeichnung Jude, Jüdin (…) gelegentlich als diskriminierend empfunden werde». Der Zentralrat der Juden protestierte, aber das Beispiel zeigt, wie weit diese Saat schon gediehen ist. Dasselbe, wenn die Schauspielerin Whoopi Goldberg im amerikanischen Fernsehen allen Ernstes behauptet, der Holocaust habe keine rassistische Grundlage gehabt. Schliesslich hätten Weisse nur andere Weisse ermordet.
Amnesty International hat die Bombe gezündet
Der Israel-Bericht bedient sich genau diesen demagogischen Strategien. So heisst es an einer Stelle, dass der Bericht «nicht behaupte oder bewerte, ob ein System der Unterdrückung und Herrschaft, wie es in Israel und den OPT besteht, mit dem System (…), wie es in Südafrika zwischen 1948 und 1994 bestand, gleichzusetzen ist oder diesem entspricht.»
Da zeigt sich die ganze Verlogenheit: Man benutzt Begriffe, aber man will sich nicht darauf behaften lassen. Amnesty drückt den Auslöser, für die Wirkung der Bombe wollen sie nicht verantwortlich sein.
All diese Beispiele zeigen, auf welche Abwege die legitime und notwendige Aufarbeitung der kolonialen und rassistischen Geschichte des Westens mittlerweile gekommen ist. Reaktionäre, antisemitische Rhetorik ist dabei, sie von innen zu zerstören. Im Falle Amnesty ist der Schaden angerichtet. Eine bisher wichtige, unverzichtbare Stimme im Kampf für Menschenrechte hat mit dem Israel-Bericht die Unparteilichkeit aufgegeben und das Unrecht, das den Menschen in den besetzten Gebieten angetan wird, zum Instrument antisemitischer Propaganda gemacht. Für die progressiven Kräfte in Israel, die eine Politik der Kooperation und des Ausgleichs suchen, ist dies fatal, ganz zu schweigen für die Jüdinnen und für die Juden, die diese Rhetorik mit ihrer persönlichen Sicherheit bezahlen.
Amnesty fordert ein Waffenembargo gegen Israel und rüstet im Gegenzug die Extremisten mit verbalem Sprengstoff aus. Diese bedanken sich umgehend. «Der Amnesty-Bericht (…) stellt einen neuen Schritt beim Aufbau des Gebäudes der Wahrheit dar, das die Welt nicht nur durch die palästinensische Erzählung, sondern auch durch juristische und menschenrechtliche Berichte ohne Voreingenommenheit gegenüber irgendeiner Partei hören und sehen muss.» So schreibt die Hamas, so frohlocken die Terroristen, die Sexisten, die Homophoben, die Antisemiten, jene, die alles tun, um die Demokratie im Nahen Osten zu zerstören. Seit vergangener Woche haben sie mit Amnesty International eine neue Verbündete.