Der Bund.
Bei einer «Besprechung mit anschliessendem Frühstück» diskutierten Nazis Details zum Völkermord an den europäischen Juden. Systematisch und in nie dagewesener Eiseskälte.
Beinahe wäre Reinhard Heydrich dem Tod noch entgangen. Der Fahrer seines Dienst-Mercedes musste wegen einer scharfen Kurve auf dem Weg zur Prager Burg bremsen. Darauf hatten die tschechoslowakischen Freiheitskämpfer am 27. Mai 1942 gewartet. Sie rannten auf den Wagen zu. Ein Attentäter warf einen Sprengsatz, der Metallsplitter in Heydrichs Körper jagte. Der «Reichsprotektor Böhmen und Mähren» wurde schwer verletzt.Heydrich lebte noch acht Tage. Er war der höchste Repräsentant des deutschen Unterdrückungsapparates, der bis dahin durch einen Akt des Widerstandes ausgeschaltet wurde: SS-Obergruppenführer, Chef des gefürchteten Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), der Zentrale des Terrors, den Hitlerdeutschland über Europa gebracht hatte. Als er am 4. Juni 1942 starb, wussten nicht einmal die Attentäter und deren Kommandanten – die tschechoslowakische Exilregierung und der britische Geheimdienst –, dass Heydrich nur vier Monate zuvor im Gästehaus der SS am winterkalten Grossen Wannsee eine Besprechung geleitet hatte, die als Inbegriff entseelter Bürokratie in die Geschichte eingehen sollte: die Wannseekonferenz.
Ein Blick tief in die böse Seele des Menschen
Zweck dieser gespenstischen Zusammenkunft, schreibt der Historiker Peter Longerich in «Politik der Vernichtung», war es, «eine Reihe von wichtigen Reichsbehörden zu Mitwissern und Mitverantwortlichen des vom RSHA verfolgten Planes zu machen, alle Juden im – gegenwärtigen und künftigen – deutschen Machtbereich in die Ostgebiete zu verschleppen, wo sie ausserordentlich harten Existenzbedingungen ausgesetzt und schliesslich zu Tode erschöpft oder ermordet werden sollten.» Dies unter Führung Heydrichs und seiner Behörde.Die Wannseekonferenz erlaubt einen tiefen Blick in die Condition humaine, in das Böse, zu dem Menschen fähig sind. Nie zuvor oder danach haben so wenige Menschen in so kurzer Zeit, es war laut Einladung nur eine «Besprechung mit anschliessendem Frühstück», ein solch apokalyptisches Vorhaben entworfen: die komplette Ermordung der Juden aller Gebiete, welche die deutsche Wehrmacht unter ihre Stiefel getreten hatte und noch treten würde.
Der deutsche Herrschaftsbereich umfasste bereits grosse Teile Europas, darunter auch gewaltige Gebiete im Westen der Sowjetunion – die freilich im Dezember 1941 doch nicht kollabiert war, wie die deutschen Kriegsplaner in ihrer Hybris zuvor einfach mal angenommen hatten. Im Gegenteil hatte die Rote Armee nur einen Monat vor der Wannseekonferenz ihren ersten grossen Sieg über die Wehrmacht errungen und sie am Stadtrand Moskaus bei eisiger Kälte gestoppt.Wie es zur Entscheidung zur «Endlösung», dem monströsen Mordplan gekommen war, diskutieren Historiker bis heute. Lange standen sich zwei Interpretationsschulen in übertriebener Unversöhnlichkeit gegenüber: Die «Intentionalisten» gingen davon aus, dass der Holocaust von Adolf Hitler von Beginn geplant und systematisch verwirklicht wurde; die «Funktionalisten» glaubten, erst eine zunehmende Radikalisierung der NS-Führung und die Entwicklung der Kriegslage hätten in den Genozid geführt. Vereinfacht gesagt, geht man heute davon aus, dass sich die beiden Theorien nicht ausschliessen, dass also der Wahnsinn des mörderischen Antisemitismus sich schliesslich der Möglichkeiten bediente, die sich boten.
Der Massenmord war damals bereits beschlossen
Ein neuer, hochbeeindruckender Spielfilm von Matti Geschonneck (Montag 20.15 Uhr, ZDF) zeigt diese Sitzung am Grossen Wannsee in Echtzeit. 15 Männer, Vertreter der Gestapo, der Ministerien, der Reichskanzlei, der Nazipartei, der Besatzungsverwaltung, des Vierjahresplans. Sie sprechen wie die Fachleute, die sie sind, Juristen, Organisatoren, Planer. Sie alle gehörten zu einer Führungsschicht, wie sie nur der NS-Staat nach oben spülen konnte: die meisten jung, Mitte 30, überzeugte Nazis und Judenhasser, sehr gewöhnliche Männer, denen das Regime unverhofft zu gewaltiger Macht und Bedeutung verholfen hatte und die sich nun umso lieber in dessen Dienst stellten, ohne Skrupel, ohne Zweifel.Anders als vielfach angenommen, fiel hier nicht die Entscheidung zur «Endlösung» der Judenfrage, der Massenmord war bereits beschlossene Sache. Mehr noch, die Deutschen hatten schon Hunderttausende Juden auf dem Gewissen, Menschen, die in angezündeten Synagogen Polens verbrannt oder nach dem Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941 von den SS-Einsatzgruppen hinter der Front erschossen worden waren, oft mithilfe der Wehrmacht.
Nun waren aber als Folge der frühen Siege an der Ostfront weit mehr Juden in der Gewalt der Deutschen, als diese erschiessen konnten. Die Verfolger sannen daher auf neue Mordmethoden.
In der Schlucht von Babij Jar bei Kiew hatten die Deutschen Ende September 1941 mehr als 33’000 jüdische Frauen, Männer, Kinder ermordet. «Die Schlucht liegt stumm, darüber das Vergessen … ich selbst bin jeder Schrei, der hier verhallte, der tonlos über tausend Gräbern hing», heisst es in Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht «Babij Jar» von 1961. Der «harte Volkstumskampf», den Hitler im Oktober 1939 befohlen hatte, war zur Zeit der Wannseekonferenz längst im Gange, eine politische und ethnische Neuordnung durch entgrenzte Gewalt.
Kern dieser Ordnung war die Vernichtung der Juden, die in der Naziideologie als schuld an allen Übeln der Welt und vor allem am Kommunismus galten. Nun waren aber als Folge der frühen Siege an der Ostfront weit mehr Juden in der Gewalt der Deutschen, als diese erschiessen konnten. Die Verfolger sannen daher auf neue Mordmethoden.
Ein Wortprotokoll gibt es nicht, aber eine als «Geheime Reichssache» deklarierte Zusammenfassung, die Adolf Eichmann als Leiter des «Judenreferats» beim Reichssicherheitshauptamt niederschrieb und an die Teilnehmer verschickte. Ein einziges Exemplar blieb erhalten. Das Ergebnis der Besprechung fasste demnach Eichmanns Vorgesetzter Heydrich zusammen: «Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen.
In grossen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden strassenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Grossteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem unzweifelhaft um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.»
Eine rasch errichtete Vernichtungsmaschinerie
Elf Millionen Menschen, so lautete das Planziel. 1945 waren sechs Millionen davon ermordet worden, die meisten durch Gas in den Vernichtungslagern, welche nach der kurzen Konferenz am Wannsee rasch errichtet wurden und überwiegend im besetzten Polen lagen. Die Konferenz war auch eine Reaktion auf eine plötzlich gewandelte Lage des Reichs. Während der Schlacht um Moskau hatten die Japaner in Pearl Harbor die US-Pazifikflotte angegriffen.
Dadurch war geschehen, was Hitler lange hatte vermeiden wollen: Die USA befanden sich nun im Krieg, früher oder später würden sie wie 1917 eine enorme Militärmacht mobilisieren und den Briten und der Roten Armee zur Hilfe kommen gegen Deutschland. Und die Sowjetunion war, anders als erwartet, eben nicht bereits niedergeworfen. Um Japan zu unterstützen, erklärte Hitler den Amerikanern seinerseits den Krieg – auf den das Reich überhaupt nicht vorbereitet war.
Der Wahnsinn änderte die Methode
Das aber markiert wohl den besonderen historischen Ort der Wannseekonferenz: Der Wahnsinn änderte die Methode. Ursprüngliche Ideen, die Juden mehrheitlich erst nach dem «Endsieg» zu ermorden, wichen dem Willen, das Höllenwerk zu vollenden, solange sich Gelegenheit bot.Viele NS-Verbrecher sind nach 1945 der Gerechtigkeit entgangen. Die grosse Mehrzahl der direkt oder indirekt am Holocaust mitschuldigen Menschen stand nie vor einem Gericht. Die meisten der Teilnehmer der Wannseekonferenz aber erfuhren nicht solch unverdiente Gnade des Schicksals, sie starben durch die Gewalt, die sie über die Welt gebracht hatten: Heydrich 1942 als Erster durch das Prager Attentat. Manche verloren noch im Krieg das Leben wie der Blutrichter Roland Freisler bei einem Bombenangriff. Andere wurden von den Siegermächten verurteilt und exekutiert, wieder andere begingen Selbstmord. Einige wenige lebten noch unbehelligt jahrzehntelang in der schnell wieder florierenden Bundesrepublik – zu deren Schande.
Adolf Eichmann wurde 1960 vom israelischen Geheimdienst Mossad aus seinem Versteck in Argentinien entführt und in Jerusalem vor Gericht gestellt. Hier stand er nun in seinem Glaskasten vor der Weltöffentlichkeit, die Inkarnation des Schreibtischtäters, aus der Verborgenheit ins Licht gerissen, und musste den Überlebenden ins Gesicht sehen. Vielleicht war das für den Protokollführer der Wannseekonferenz sogar die schlimmere Strafe als das Todesurteil, das 1962 vollstreckt wurde. Das Gericht liess seine Asche ins Meer kippen.