Berner Zeitung.
Emil Roosen überlebte das KZ Bergen-Belsen. Seine Tochter erzählte an der IDM Thun die bewegende Geschichte des jüdischen Häftlings im Zweiten Weltkrieg.
Es ist der 11. April 1945, als sich die Alliierten dem Konzentrationslager Bergen-Belsen nähern. Der damals 18-jährige Emil Roosen und seine Mutter werden zusammen mit 2500 anderen jüdischen Häftlingen in Güterwagen gezwängt und deportiert. Mit Fahrziel KZ Theresienstadt auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren. Damit begann eine Irrfahrt, die zwölf Tage dauerte, ohne Essen, ohne Tranksame, ohne sanitäre Einrichtungen.
«Das Risiko, erschossen zu werden, war immer da», hält Margalith Altmann auf eine Frage einer jungen Zuhörerin fest. Die 53-jährige, in Zürich lebende Frau am Rednertisch weiss, wovon sie spricht, wenn es um die Gräueltaten des Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg geht. Emil Roosen war ihr Vater.
An der IDM Thun erzählte Margalith Altmann die bewegende Familiengeschichte. Zuhörer waren 15 Schülerinnen und Schüler der Berufsmaturklasse mit Ausrichtung Gesundheit und Soziales. Und rasch war klar: Die Worte von Margalith Altmann ziehen die jungen Leute in den Bann. Als die 53-jährige Frau erzählte, wie ihr Vater ein letztes Mal die Brutalität und die Unmenschlichkeit der Nazis erlebte, wurde es still im Saal.
Auf der Flucht
Der als Räumungstransport bekannte Zug schreibt schliesslich Geschichte. In der Nähe der brandenburgischen Gemeinde Tröbitz kommt er nicht weiter. Die vorrückenden Truppen der roten Armee befreiten die Häftlinge aus den Güterwaggons.
Emil Roosen überlebt. Er wiegt gerade noch etwas über 30 Kilogramm und wird von Soldaten in ein Spital gebracht. Seine Mutter stirbt ein paar Tage später. Emils Vater verliert sein Leben bereits in Bergen-Belsen. Die harte Zwangsarbeit im KZ überlebt er nicht, seine Schwester und deren kleine Tochter werden im KZ Auschwitz ermordet.
Emil Roosen hat Glück. Mithilfe des Roten Kreuzes kommt er nach Holland. Dorthin ist er mit seiner Familie in den 1930er-Jahren aus Deutschland geflüchtet. Doch die Neutralität der Niederlande hält nicht lange. 1940 marschieren deutsche Truppen ins Land. Die Familie wird verraten und ins Konzentrationslager Belsen-Bergen gebracht.
Ein Jahr im Spital
In Holland liegt der 18-jährig Emil nach der Befreiung ein Jahr lang im Spital, bis er wieder zu Kräften kommt. Verloren hat er alles. Seine nächsten Verwandten sind tot. Den Glauben hat der streng orthodoxe Jude während des Holocaust nicht verloren. «Er hat uns erzählt, dass er sein Gebetsbuch immer bei sich behalten konnte», berichtete Margalith Altmann. Ansonsten habe ihr Vater nicht viel über die menschenunwürdige Zeit gesprochen, als er im KZ zum Beispiel Stiefel gefallener Soldaten zerlegen musste. «Er wollte uns damit nicht belasten», so die Tochter.
Nach seiner Rettung und dem langen Spitalaufenthalt findet Emil Roosen einen Cousin seines Vaters. Dieser hat überlebt und bietet ihm eine Stelle in einer Firma für Metallrecycling an. Dort trifft Emil auf seine künftige Frau, die im Holocaust ebenfalls ihre Familie verloren hat. Die beiden ziehen drei Kinder gross. «Wir konnten unbeschwert aufwachsen und haben lange nichts geahnt», führt Margalith Altmann weiter aus.
Nachdenkliche Schüler
«Ich hatte Gänsehaut», sagte die 19-jährige Berufsmaturandin Anja Gyger aus Steffisburg wenig später sichtlich beeindruckt. Und weiter: «Es stimmt mich nachdenklich, weil das Geschehen ja noch nicht allzu lange zurückliegt.» Und ihr Klassenkollege Lars Schröder ergänzte: «Es ist wichtig, darüber zu sprechen, damit diese Schreckensszenarien in Erinnerung bleiben.» Beeindruckt vom Vortrag zeigte sich ebenso Madlaina Herkommer aus Interlaken. «Eigentlich kennen wir den Holocaust nur aus dem Geschichtsbuch. Mit dem Vortrag erhält das Thema plötzlich ein Gesicht», sagt die 20-Jährige.
In der Fragerunde kommt auch das Thema Antisemitismus zur Sprache. «Dieser existiert auch in der Gegenwart», antwortet Margalith Altmann klar und deutlich. Ihr Vater ist im vergangenen Jahr im Alter von 94 Jahren verstorben.
Den Anlass an der IDM in Thun hat die SET Stiftung Erziehung zur Toleranz organisiert. Diese hat Kontakt zu über 20 Nachkommen von Holocaustüberlebenden, die auf Anfrage in Schulklassen gehen, und ihre Familiengeschichte erzählen.