«Die Stei wäre nid gfloge, wenn mir nid Gummi gä hätte»

bajour / Republik.

Ein Polizeibericht und Videoaufnahmen werfen Fragen auf. Hat das Vorgehen der Polizei überhaupt erst dazu geführt, dass die Anti-Pnos-Demonstration vor zwei Jahren eskalierte? Eine Recherche in Kooperation mit der Republik, Teil 2.

Wenn Zweifel an der Polizeiarbeit aufkommen: Wer kontrolliert dann die die Kontrolleur*innen? 

Die Erfahrung zeigt : Sich in Basel bei der Staats­anwaltschaft über die Polizei zu beschweren, kann für Demonstrant*innen gefährlich werden. Wie folgendes Beispiel zeigt.

Im Februar 2016 wird in Kleinbasel eine Kirche besetzt. Und zwar von einer Gruppe von Flüchtlingshelfer*innen und Asylsuchenden, die mit einer Ausschaffung nach Italien rechnen müssen. Sie erbeten Kirchenasyl, was ihnen erst einmal gewährt wird. Die Sache geht fast drei Wochen lang gut, dann räumt die Polizei die Kirche. 

Die Reaktion: Ein Demo aus Solidarität mit den Geflüchteten. Zweimal versucht die Demonstration eine der Brücken ins Grossbasel zu überqueren. Dort steht das Rathaus. Die Polizei verhindert das. 

Beim zweiten Mal setzte die Polizei Gummischrot ein. Der Mindestabstand von 20 Metern wurde unterboten, sagen Demonstrant*innen gegenüber den Medien, Videoaufnahmen bekräftigen das. Eine ältere Frau wird von Gummischrot im Gesicht getroffen. 

Fünf Personen reichen daraufhin Anzeigen gegen die Polizei ein, wegen Unverhältnismässigkeit und der unnötigen Gefährdung sowie Verletzung von Zivilist*innen. Daraufhin werden sie von der Staatsanwaltschaft als Auskunftspersonen eingeladen. 

Die Personen kommen der Einladung nach und gaben Auskunft, im Glauben, damit eine polizeiinterne Untersuchung des Gummischroteinsatzes in Gang zu setzen. Stattdessen erhalten die Ankläger*innen kurz darauf einen Strafbefehl wegen Landfriedensbruch und mehrfacher Störung von öffentlichen Betrieben. 

Die Staatsanwaltschaft hat die Aussagen der Ankläger*innen gegen die Polizei als Beweismittel gegen sie benutzt. Sie seien an einer unbewilligten Demo gewesen und hätten sich strafbar gemacht. Die Betroffenen wurden nicht darauf hingewiesen, dass es aufgrund ihrer Aussagen zur Eröffnung eines Verfahrens gegen sie kommen könnte. 

Das Gericht spricht alle fünf Angeklagten frei und kritisiert das Vorgehen der Staatsanwaltschaft. 

Der Polizei wiederum wird nichts vorgeworfen. Die Untersuchung des Mitteleinsatzes wird eingestellt. 

IX. Der Mitteleinsatz

Gummischrot ist ein umstrittenes Mittel. In Deutschland ist der Einsatz weitgehend verboten, in Rumänien, Irland, Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland und Österreich komplett. In der Schweiz und in Basel gibt es klare Regeln, wann Gummi eingesetzt werden darf.

Diese besagen: 

  • Es muss eine Mindestdistanz von 20 Metern eingehalten werden, die unterschritten werden darf, wenn es sich um eine Notwehrsituation handelt.
  • Es muss rechtzeitig eine Androhung erfolgen, damit die betroffenen Personen noch von sich aus den polizeilichen Anordnungen nachkommen können.
  • Der Einsatz muss verhältnismässig sein. 

An diese Vorschriften müssen sich Polizist*innen halten. Auch an einem Tag wie dem 24. November 2018 – ein Tag, an dem die Gewerkschaften auf dem Theaterplatz demonstrieren, die LGBTIQ-Vertreter*innen auf dem Claraplatz, sich die Pnos noch dazu auf dem Messeplatz kundtut und zwei Gegendemonstrationen aufmarschieren, um den Rechtsextremen entgegenzutreten. Ein Tag wie ein Pulverfass.

War der Mitteleinsatz am 24. November 2018 gerechtfertigt? Haben die Polizist*innen die Regeln eingehalten, als sie mit Gummi auf die Gegendemonstration schossen? Das wird seit Längerem in allen Punkten infrage gestellt, unter anderem von der «Wochenzeitung» aber auch im Basler Parlament.

Die Staatsanwaltschaft schreibt in die Anklageschriften gegen die Demonstrant*innen, die Polizei habe sich gegen die Gefahr wehren müssen, überrannt zu werden. 

Das ist die zentrale Begründung für den Mitteleinsatz an der Kreuzung Mattenstrasse, Ecke Rosentalstrasse. 

Was auf den Videoaufnahmen der Polizei ganz klar zu sehen ist: Die Gruppe war laut, sie war wütend. Aber auch: Die Gruppe hat sich auf dieser Kreuzung nicht bewegt. Nichts deutet auf einen Angriff hin. 

X. Das Ablenkungsmanöver

Aber nicht nur Angeklagte, Strafverteidiger*innen und unbeteiligte Beobachter*innen des Geschehens erheben Zweifel am Vorgehen der Polizei – auch Polizisten selbst, die an diesem Tag im Einsatz waren.  

«Diese Eskalation wäre nicht nötig gewesen. Die Demonstranten verhielten sich bis zu dieser Zeit friedlich. Sie hielten unsere Mindestdistanz ein, waren für eine gewalttätige Auseinandersetzung meiner Meinung nach nicht gerüstet, keine Steine bereit gestellt, kein Pyromaterial dabei, kein Laser sichtbar.» 

Das Zitat stammt aus dem Polizeibericht, der Bajour und der Republik vorliegt. Der zitierte Beamte war während des Gummischroteinsatzes an vorderster Front dabei. Im Rapport sagt er, die Situation sei eskaliert, nur weil dieser eine betrunkene Mann über die Trennlinie getreten sei. «Weil die Polizei zwingend einen Angriff von Linksextremisten gegen Demonstrationsteilnehmer der Pnos verhindern musste.»  

Gummischrot auf eine grössere Gruppe bis zu diesem Zeitpunkt friedliche Demonstrant*innen, weil ein einzelner Betrunkener vor dem Absperrband herumtänzelt? 

Auf einer Videospur, die das Geschehen aus dem Messeturm filmt, sind mindestens drei Beamte zu hören, die sich über den Gummischroteinsatz unterhalten. 

Beamter 1: Gummi, Gopferdammi!

Beamter 2: Ebbe, dass sie abglänggt sind. Dass sie hinde ab chönd die andere (die Teilnehmenden der Pnos-Kundgebung).

Beamter 1: Jä, das findi aber nid guet hey. 

Beamter 3: Worum bin ich immer dört wos nid abgoht?

Beamter 1: Das begriffi nid ganz wieso das Ablänggmanöver, das isch nid guet hey. 

Beamter 1: Ebbe jo. 

Beamter 2: Was?

Beamter 1: Jo sie händ zerst Gummi gschosse, ich weiss nid worum? Ich find das kei so guets Ablänggmanöver um ehrlich z syy.

Beamter 2: Doch das die andere hinde use könne. 

Beamter 1: Jojo, aber jetzt lueg was abgoht. He? Stei fliege, jetzt warti nur no jetzt…

Und nach ein paar Minuten

Beamter 1: Das Gummischrot, das bini dr Meinig, das isch kontraproduktiv gsi. Die Stei wäre nid gfloge, wenn mir nid Gummi gä hätte.

Beamter 3: Händ si zerscht Gummi gä?

Beamter 1: Hejo. 

Beamter 3: Wieso?

Beamter 1: Als Ablänggig, dass d Pnos fut chönd.

Beamter 2: Ych find das heikel, muess dr ganz ehrlich sage. Das isch jetzt knapp uffgange, sagi (lacht).  

Gewalteskalation von Seiten der Polizei als Ablenkungsmanöver, damit die Pnos weg kann? Ein Demonstrant hat offenbar bleibende Schäden am Auge, wegen eines mutmasslichen Ablenkungsmanövers? Und eine junge Frau muss vor diesem Hintergrund acht Monate ins Gefängnis? 

Ist das noch verhältnismässig? 

Ein pikantes Detail: In den Zusammenschnitten der Staats­anwaltschaft, die bei den Prozessen gezeigt werden, ist bei den Videoausschnitten der Aufnahmen aus dem Messeturm – und nur genau bei diesen Ausschnitten – die Tonspur herausgelöscht. 

Das wirft Fragen auf: Warum bearbeitet die Staatsanwaltschaft Teile des Beweismaterials so, dass die Zweifel der filmenden Polizisten am Mitteleinsatz nicht mehr zu hören sind? Dass gleichzeitig nur die Reaktionen der Demonstrant*innen auf den Gummischroteinsatz zu sehen sind? 

Die Staatsanwaltschaft äussert sich auf Anfrage nicht zur gelöschten Tonspur. Sie schreibt: «Anwälte können ihre Anliegen in der Verhandlung vorbringen und durch das Gericht beurteilen lassen.» Damit ist gemeint, dass die Verteidigung ja das gesamte Videomaterial im Original, nicht nur der Zusammenschnitt, zur Verfügung hatte. Zur Erinnerung: Das sind 335 Gigabyte Ton- und Bildaufnahmen.

Das Gericht geht beim Prozess, der mit acht Monaten unbedingt endet, auch dann nicht auf die Videosequenz ein, als sie, auf Anforderung des Anwalts, mit Ton und damit hörbar mit den Aussagen der Beamten abgespielt wird. Die Frage, von wem zuerst Gewalt ausgegangen sei, sei nicht «Match-entscheidend», sagt der Richter in der Urteilsverkündung. 

Hier ist ein Ausschnitt des Videos, das auf Twitter veröffentlicht wurde. Zu hören ist darauf der zweite Teil des oben beschriebenen Gesprächs.

«Ein faires Verfahren beleuchtet alle Umstände der Geschehnisse», sagt Strafverteidiger und SP-Grossrat Christian von Wartburg. «Auch der Polizei können bei ihren Einsätzen Fehler unterlaufen. Mich stört aber sehr, dass ein Einsatz selbst dann nicht sorgfältig analysiert wird, wenn gewichtige Anhaltspunkte vorliegen, dass dieser möglicherweise unverhältnismässig oder fehlerhaft war.» Besonders stossend erscheine ihm, wenn gleichzeitig die Reaktion von Personen, die von einem solchen möglicherweise problematischen Einsatz betroffen waren, akribisch untersucht und dann auch verfolgt werde. 

Für von Wartburg ist klar, dass der Polizeieinsatz vom 24. November 2018 gründlich untersucht werden müsste. «Was es braucht, ist deshalb eine unabhängige und paritätische Stelle, die Untersuchungen führt, bei der am Ende nicht zwingend harte disziplinarische Massnahmen stehen sollen, sondern eine kompromisslose Aufarbeitung des Geschehenen.» 

Immerhin zeichnen sich hier kleine Fortschritte ab. Ein Vorstoss zur Schaffung einer solchen Stelle wurde vom Basler Kantonsparlament Mitte Oktober an die Regierung überwiesen. Diese muss nun Stellung nehmen. 

XI. Die Beweismittel des Basler Nachrichtendienstes

Führt man die bisher gesammelten Fäden zusammen, dann verdichten sich diese zu folgendem Verdacht: Die Basler Strafverfolgung und ihr angeschlossene Behörden haben in der Vergangenheit einen problematischen Umgang mit dem von der Verfassung geschützten Recht auf freie Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit gepflegt. 

Dazu gehört nachweislich auch die Fachgruppe 9 – der kantonale Nachrichtendienst. Dieser hat eine unrühmliche Geschichte. 2008 wird bekannt, dass er Grossrät*innen mit Migrationshintergrund fichierte.Daraufhin wird ein in der Schweiz einmaliges Kontrollorgan eingesetzt, das die Arbeit des Nachrichtendienstes fortan zwei Mal im Jahr kontrolliert und öffentlich berichtet. Dieses stellt 2010 fest, dass der Nachrichten­dienst automatisch sämtliche Personen verzeichnet, die in Basel eine Demonstration anmelden. 

In einer Demokratie sind das unhaltbare Zustände. Das Kontrollorgan über den Staatschutz Basel-Stadt unterbindet die Praxis. Doch die drei zivilen Rechtsexpert*innen, aus der sich das Gremium aktuell zusammensetzt, stellen bei Stichproben fest, dass sich der kantonale Nachrichtendienst nach der Einführung des Neuen Nachrichtendienstgesetzes 2017 offenbar nicht mehr an diese Anweisung gehalten hat. Und weiterhin Bürger*innen als potenzielle Gefahr für die innere und äussere Sicherheit des Landes verzeichnete – Bürger*innen, deren einziges Vergehen darin liegt, von ihrem Grundrecht zu demonstrieren Gebrauch zu machen. 

Aufnahmen des Nachrichtendienstes tauchen auch in der Prozess-Reihe Basel-Nazifrei immer wieder als Beweismittel auf. Das ist nicht unproblematisch, da der Nachrichtendienst keine aktive Rolle in der Strafverfolgung einnehmen darf. Die Verwendung seiner Beweismitteln zur Identifikation von Täter*innen beschäftigt inzwischen auch das Kontrollorgan. «Wir kennen das Problem, aber die Lösung kennen wir noch nicht», sagt Markus Schefer, Staatsrechtsprofessor an der Universität Basel und Mitglied des Kontrollorgans.  

Die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit mit der Straf­verfolgungs­behörde bezeichnet Schefer als «alles andere als befriedigend». Das Problem, sagt er, sei hier aber nicht einfach ein nachrichtendienstliches – «es ist vor allem ein strafprozessuales». 

Der Grund: Der Nachrichtendienst darf keine Auskunft darüber geben, wie er zu seinen Informationen kommt – nicht der Polizei, nicht der Staats­anwaltschaft, nicht der Justiz. «Der Richter weiss nicht, woher diese Beweismittel stammen, unter welchen Umständen sie entstanden sind. Und der Angeklagte kann das Beweismittel gar nicht infrage stellen – auch für ihn stellen die Bedingungen, unter denen das Beweismittel entstanden ist, eine Black Box dar. Das darf nicht sein», sagt Schefer. «Ich bin erstaunt darüber, dass Strafgerichte solche Beweismittel offenbar durchaus zulassen.» 

Schefer beobachtet die Prozesse nicht nur aus der Perspektive des Kontrollorgans: «Das liegt jetzt wirklich nicht in diesem Mandat. Aber für mich als Aussenstehenden entsteht der Eindruck, es werde hier mit ganz besonderer Akribie ermittelt.» 

Aber das sei eine Frage, die man jemand anderem als ihm stellen müsse, sagt Schefer. 

Die Frage: «Wo legt die Staatsanwaltschaft ihre Schwerpunkte?» 

XII. Die Prioritäten

Direkt auf den Artikel des Landfriedensbruchs, der die Basler Justiz derzeit beschäftigt, folgt im Schweizer Strafgesetzbuch ein anderer Tatbestand, der für die Aufarbeitung der Ereignisse des 24. November 2018 relevant sein könnte: Artikel 261 – Diskriminierung und Aufruf zum Hass. 

Darin heisst es unter anderem, dass bestraft wird, «wer öffentlich gegen eine Person oder eine Gruppe von Personen wegen ihrer Rasse, Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung zu Hass oder zu Diskriminierung aufruft» oder «wer öffentlich Ideologien verbreitet, die auf die systematische Herabsetzung oder Verleumdung dieser Personen oder Personengruppen gerichtet sind». 

Der Tatbestand dürfte den Organisator*innen der Pnos-Kundgebung vom 24. November 2018 bestens bekannt sein. Schliesslich fordert die rechtsextreme Gruppierung dessen Abschaffung. 

Ein Mitglied der Basler Pnos-Sektion hält an der Kundgebung eine rassistische, antisemitische Rede voller Verschwörungstheorien. Die Aufzeichnung liegt Bajour und der Republik vor. Sie dauert dreissig Minuten. Beim Zuhören wird einem schlecht.

Darin fabriziert das Pnos-Mitglied eine irrwitzige, absurde Theorie: «Zionisten» hätten den ersten Weltkrieg angezettelt. Und auch den zweiten Weltkrieg, der eine «selbstinszenierte Verfolgung» gewesen sei, um sich Palästina zu unterwerfen. Das Ziel sei, die Menschheit von acht Milliarden auf 500 Millionen zu reduzieren und mit afrikanischen und anderen Kulturen zu «durchmischen». Juden würden unter sich heiraten, um intelligent zu bleiben, während alle anderen dumm würden.

Die Staatsanwaltschaft bestätigt auf Anfrage, dass Anzeigen gegen die Pnos eingingen wegen Verdachts auf Rassendiskriminierung. Und verweist darauf, dass diese von Dritten eingereicht wurden. Das Verfahren ist hängig. 

Das ist erstaunlich. Denn der Verstoss gegen die Rassimusstrafnorm ist – wie der Landfriedensbruch – ein Offizialdelikt. Die Strafverfolgungsbehörde muss den Fall also von Amtes wegen verfolgen, wenn sie davon erfährt. Dass die Pnos-Rede der Strafverfolgung vorliegt, kann angesichts des Polizeiaufgebots und der daraus resultierenden Dokumentierung in diesem Fall als gegeben gelten. 

Warum hat die Staatsanwaltschaft nicht von sich aus ermittelt? Und warum liegt dem Gericht noch keine Anklageschrift gegen den Pnos-Redner vor, während die Gegendemonstrant*innen teilweise schon verurteilt sind?  

Gewichtet die Basler Staatsanwaltschaft die Verfolgung bei mutmasslichem Verstoss gegen die Rassismusstrafnorm weniger dringlich als die Verfolgung mutmasslicher Teilnehmer*innen einer unbewilligten Demonstration, die eskaliert?

Da das Verfahren hängig ist, äussert sich die Staatsanwaltschaft nicht dazu. 

Sicher ist: Bei den vorliegenden Anklageschriften der Gegen-Demonstrant*innen wird die Pnos nicht erwähnt. Stattdessen ist lediglich die Rede von einer politischen Partei – als handle es sich dabei um eine CVP oder eine FDP. 

XIII. Das Urteil

Der Staatsanwalt ist nicht zugegen, als der Richter das Urteil acht Monate unbedingt verliest. Während er seinen Entscheid damit begründet, dass eine politische Gesinnung nicht strafmildernd sein kann, ruft einer der Angehörigen in den Saal: «Du bist es, der ein Gesinnungsurteil fällt.» 

Der Mann wird des Saals verwiesen. Der Richter fährt fort: «Gesinnungs­urteile haben wir nicht, stattdessen werden hier Rechtsgüter geschützt …» Viel weiter kommt er nicht. Dieses Mal ist es eine Frau, die ruft: «Die verdammte Pnos wird hier geschützt, nichts weiter!» 

Auch sie wird des Saals verwiesen. 

Der Anwalt der Angeklagten drückt sich diplomatischer aus. Die Prozesse bezeichnet er in seinem Plädoyer als eine «gezielte Repression gegen Kreise, die zwar stark in der Zahl, aber schwach in Mitteln seien». 

Es ist nicht das erste Mal, dass der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wird, selektiv zu sein, wenn es darum geht, Demonstrant*innen wegen Landfriedensbruchs anzuzeigen. Bei mehreren Demonstrationen, bei denen es zu Ausschreitungen kam, waren lokale Politiker*innen zugegen, die auch offen zu den Anliegen der Demonstrationen standen. Gegen sie wurde nie Anklage erhoben. 

XIV. Der Widerstand

«Kein Zweifel: Die Repression geht ganz gezielt gegen Junge», sagt Frank Blass. Er ist Teil des «Grauen Blocks», einem Zusammenschluss älterer Männer und Frauen, die schon 1968 und in den Achtzigerjahren auf die Strasse gingen. Und die sich im Nachgang zu den Basel-Nazifrei-Prozessen neu organisiert haben. 

Auch der Graue Block hat am 24. November 2018 gegen die Pnos demonstriert, stand da, als die Gummigeschosse der Polizist*innen mit Bierbüchsen und Steinen erwidert wurden.  

Deshalb sind ungefähr 60 von ihnen ein Jahr nach der Demonstration auf dem Polizeiposten aufmarschiert, um zu deklarieren, dass sie ebenfalls vor Ort waren. «Wir sind empört, wir sind entsetzt», sagt Blass. «Die Demonstration wurde von uns allen getragen – vom Kind bis zum 80-Jährigen war alles dabei – das Gummi galt uns allen. Aber ermittelt wird dann nur gegen die Jungen.» Die Staatsanwaltschaft widerspricht dieser Darstellung und weist sie als «haltlose Behauptungen» zurück. 

Ein Jahr ist seit der Selbstdeklaration vergangen. Seither treffen sich die Jungen und die Alten regelmässig zu Sitzungen. Was die Alten beitragen: Erfahrung. Und Mittel. 

Überhaupt ist die Bewegung Basel-Nazifrei stetig gewachsen. Auch über die Kantonsgrenzen hinaus. Die Solidarität mit den Angeklagten von Basel ist gross, breit – und bemerkenswert gut organisiert. 

In Zürich hat sich eine Bewegung formiert, die mit einem spektakulären Spendenaufruf 500’000 Franken sammeln will – die Höhe der Basler Prozesskosten. Es sei offensichtlich, dass es hier um eine Kriminalisierung der «antifaschistischen Bewegung» gehe, sagt ein Initiator, und darum, die Leute abzuschrecken, überhaupt auf die Strasse zu gehen. «Ein solcher Prozess kostet richtig viel Geld, und deswegen müssen wir uns organisieren», sagt der Aktivist und klickt durch die Seite, wo man bequem via SMS, Twint oder Postcard spenden kann. Diese Woche soll zusätzlich ein Crowdfunding anlaufen. 

Bei fast allen Prozessen versammeln sich Demonstrant*innen vor dem Strafgericht. Am Montag, an dem die 28-Jährige Frau acht Monate unbedingt erhält, sind es über 80 Personen und sechs verschiedene Gruppierungen, die sich auf Transparenten solidarisch bekennen: Das Kollektiv für Klimagerechtigkeit, Antifaschist*innen, Radikale Feminist*innen, der Aufbau, Basel-Nazifrei und der Graue Block. 

Es scheint, als hätten die Prozesse und die harten Urteile die Szene nicht entmutigt, sondern mobilisiert. 

Natürlich sei es nicht immer einfach, es raube Zeit und Energie, die man auch anders nutzen könnte, sagen Leo und Mira. Beide sind Angeklagte in den Prozessen und heissen eigentlich anders. «Aber wir versuchen, die Repression, die wir erleben, in politische Energie umzuwandeln.» 

Kommenden Samstag, 28. November, wird in Basel wieder demonstriert. Dann jährt sich die Demonstration gegen die Pnos zum zweiten Mal. Trotz der laufenden Verfahren und des damit verbundenen Risikos, noch härter angegangen zu werden, wollen Leo und Mira hingehen. Die Demo wurde bewilligt, wie die Polizei bestätigt.

«Es geht nicht um uns», sagen Leo und Mira. «Es geht darum, dass niemand still sein kann, wenn in unseren Städten menschenverachtende Ideologien propagiert werden, die für so viel Gewalt in dieser Welt verantwortlich sind. Wenn Nazis aufmarschieren, gibt es keine Neutralität und kein Wegschauen», sagen sie. 

Von 2018 auf 2019 hat die Zahl der Demonstrationen in Basel um mehr als ein Drittel zugenommen – von 97 auf 133. Eine Entwicklung, die sich weit über die Grenzen des Stadtkantons abzeichnet. 

Ob Black-Lives-Matter, Frauen, Kurd*innen, Abreibungsgegner*innen oder -befürworter*innen, Klimajugend, Arbeiter*innen, Antifaschist*innen oder Menschen, die ihre Freiheit wegen einer Maskenpflicht bedroht sehen – die Strassen sind bewegt, wie sie es seit Jahrzehnten nicht waren. 

Die Proteste werden angesichts der Weltlage in absehbarer Zeit vermutlich nicht weniger, sondern mehr. Und man muss sich fragen, wem gedient ist, wenn die Antwort wie in Basel lautet: möglichst viel Repression und Kriminalisierung.

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Hinter der Geschichte: Als am Basler Strafgericht eine Demonstrantin zu acht Monaten unbedingt verurteilt wurde, waren im Saal zwei akkreditierte Journalist*innen zugegen. Anja Conzett, Reporterin der Republik, war aus Zürich herangereist. Daniel Faulhaber hat für Bajour bereits über mehrere Prozesse berichtet. Nach dem Urteil entstand die Idee, eine gemeinsame Recherche zu starten und dabei eine Frage in den Blick zu nehmen: Wie konnte es zu diesem Prozess-Ausgang kommen?

Die gemeinsame Recherche erscheint gleichzeitig bei Bajour und bei der Republik.