Neue Zürcher Zeitung.
Karl Hass war ein unbelehrbarer Nazi-Verbrecher, ein windiger Geheimdienstagent und ein schlechter Schauspieler. Nach einem turbulenten Leben schien er in der Schweiz seine Ruhe gefunden zu haben. Doch das Schicksal wollte es anders – ein Blick zurück.
«Fünfzehn Minuten sind mehr als genug, um zwei Menschen zu töten.» Mit diesem Satz sorgt Karl Hass am 16. Juni 1996 für eine spektakuläre Wende in einem der letzten Kriegsverbrecherprozesse im Gefolge des Zweiten Weltkriegs. Das weltweite Interesse an den Aussagen des 84-jährigen Hass ist riesig. Denn die Verhandlungen vor einem Militärgericht in Rom bieten die wohl letzte Chance, das schlimmste Nazi-Verbrechen in Italien zu sühnen.
Auf der Anklagebank sitzt der 83-jährige Erich Priebke. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer konnte nach Jahrzehnten in Argentinien aufgespürt werden, wohin er nach dem Krieg geflohen war. Mit den Worten «Wir taten, was uns befohlen wurde» gibt Priebke zu, dass er 1944 an einer Vergeltungsaktion beteiligt war, die als Massaker in den Ardeatinischen Höhlen in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Er plädiert jedoch auf Freispruch, da er auf Befehl von oben gehandelt habe.
Racheakt für Anschlag von Partisanen
Anlass für die angeblich von Adolf Hitler persönlich angeordnete «Repressalie» war ein Attentat am 23. März 1944 in der von den Deutschen besetzten italienischen Hauptstadt. Beim Vorbeimarsch eines Polizeiregiments aus Südtirol zündeten kommunistische Partisanen eine Bombe. Je nach Quelle forderte der Anschlag 32 beziehungsweise 33 Tote unter den regimetreuen Polizisten.
Die Rache der Nazis war grausam. Willkürlich wurden 335 Zivilisten hingerichtet, die meisten von ihnen stammten aus Gefängnissen, wo sie wegen politischer oder krimineller Taten sassen. Das jüngste Opfer war erst 14, das älteste 74. Die Massenerschiessung fand am 24. März in den Ardeatinischen Höhlen südlich von Rom statt.
Geleitet wurde die Aktion von Herbert Kappler, dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS in Rom. Kappler wurde dafür 1948 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Militärgericht sah in allen 335 Fällen den Tatbestand des Mordes erfüllt. Seine mitangeklagten Untergebenen wurden hingegen freigesprochen, weil sie Kapplers Befehl nicht als rechtswidrig hätten erkennen können. Dieses Urteil will das Militärgericht im Sommer 1994 im Fall von Priebke revidieren.
Karl Hass, der als SS-Hauptsturmführer in Rom tätig war und gemäss seinen ursprünglichen Aussagen nicht am Massaker beteiligt war, soll im Prozess als Belastungszeuge auftreten. Gegen die Zusicherung von Straffreiheit soll er belegen, dass es möglich war, sich dem Befehl der höheren Offiziere zu verweigern. Eine entsprechende Vereinbarung hat er mit dem Staatsanwalt Antonio Intelisano abgeschlossen.
Vom Belastungszeugen zum Mittäter
Der ehemalige SS-Mann Hass ist von den italienischen Behörden im Tessin aufgespürt worden. Dort lebt er in den 1990er Jahren, nachdem er mit seiner italienischen Lebensgefährtin in die Nähe ihrer gemeinsamen Tochter gezogen ist. Hass scheint seine neue Berühmtheit zu geniessen, gibt er doch vor Prozessbeginn in den Bars von Lugano italienischen Journalisten freimütig Interviews. «Fluchtort Schweiz für Altnazis – mehr als peinlich für die Tessiner Behörden», schreibt der «Blick».
Erst recht peinlich wird es im Priebke-Prozess. Nur schon die Umstände seiner Zeugenaussage vor dem Militärgericht sind ungewöhnlich. Hass ist nämlich gar nicht im Gerichtssaal anwesend, sondern wird aus dem Armeespital Celio zugeschaltet. Dort liegt der 84-Jährige seit wenigen Tagen. Kurz vor Prozessbeginn bekommt er kalte Füsse und will sich absetzen: In Panik springt er aus dem Zimmer seines Römer Hotels und zieht sich einen Beckenbruch zu. Prozessbeobachter können sich die Aktion nicht erklären, da sich Hass ja freiwillig als Zeuge zur Verfügung gestellt hat.
Und es kommt noch schlechter für Hass. Mit seiner Aussage am Prozess, er habe sich zum Zeitpunkt des Massakers eine Viertelstunde in den Ardeatinischen Höhlen aufgehalten, belastet er sich selbst. Er wird vom Zeugen zum Mittäter, der, wie sich herausstellt, zwei Menschen mit einem Genickschuss getötet hat. Zugleich wirft er die Strategie der Anklage über den Haufen: Niemand behauptet mehr, man habe sich als SS-Angehöriger dem Befehl Kapplers beziehungsweise Hitlers widersetzen können.
Die Folgen dieser Wende sind gravierend: Erich Priebke wird am 2. August 1996 vom Militärgerichtshof freigesprochen. Auch Karl Hass kann den Gerichtssaal trotz seinem Geständnis als freier Mann verlassen. Er ist nicht als Beschuldigter aufgetreten, und vorläufig erheben die italienischen Behörden auch keine Anklage gegen den Mittäter vom 24. März 1944.
Gesuchter Nazi und Spion für die Amerikaner
Hätte sich der Staatsanwalt Intelisano im Vorfeld des Prozesses besser über Hass informiert, hätte er wohl darauf verzichtet, ihn in den Zeugenstand zu rufen. Zu viele Verwandlungen hat der überzeugte Nazi in seinem Leben durchgemacht, als dass man ihm über den Weg trauen könnte.
Karl Hass wird am 5. Oktober 1912 in Kiel geboren. 1934 tritt er in die SS ein und erhält die Mitgliedsnummer 117 557. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird er in die Niederlande entsandt. Drei Jahre später wird der italophile Politologe nach Rom versetzt. In der SS macht Hass militärisch nicht gross Karriere. Seine Welt sind die Geheimdienste. Bereits 1932 wird Hass Mitarbeiter des Berliner SD-Hauptamts. SD ist das Kürzel für Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, der so etwas ist wie ein Nachrichtendienst der Nationalsozialistischen Partei.
In Rom fühlt sich Hass so richtig wohl. Dank seinen Sprachkenntnissen und seiner gewinnenden Art knüpft er rasch Kontakte in die besten Kreise der italienischen Gesellschaft, was es ihm erleichtert, zu wichtigen Informationen für die Deutschen zu kommen. Als die amerikanischen Truppen im Sommer 1944 immer näher an die italienische Hauptstadt heranrücken, wird ihm der Boden zu heiss, und er flieht in Richtung Norditalien.
Nazi arbeitet für US-Geheimdienst
Für die Alliierten ist er kein Unbekannter. Wegen seiner Zugehörigkeit zur SS wird er vom Counter Intelligence Corps (CIC) gesucht, dem Nachrichtendienst der US-Armee. Die Fahndungsakte beschreibt Karl Hass als knapp 1 Meter 83 gross, von kräftiger Statur, mit schwarzem, kurz geschnittenem Haar. Er gilt als Spassvogel und trinkfest. In den Nachkriegswirren wird er im November 1945 vom CIC gefasst. Wenig später gelingt ihm ein erstes Mal die Flucht. In der Folge entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen dem amerikanischen Geheimdienst und dem einfallsreichen Nazi. Mindestens fünfmal wird er verhaftet, kann jedoch immer entkommen.
Bald ändern sich die Prioritäten der Amerikaner. Angesichts der Gefahr, dass die Kommunisten in Italien zur stärksten Partei werden könnten, werden aus Nazi-Verbrechern plötzlich potenzielle Verbündete gegen den Sozialismus. Das ist die Chance für Hass, der seine Verbindungen ins italienische Establishment als Trumpf ausspielen kann.
Im Juni 1947 schliesst er eine Vereinbarung mit den Amerikanern, in der er sich verpflichtet, «seine Talente und Energien zugunsten des CIC zu verwenden». Die amerikanische Spionageabwehr verschafft ihm zu diesem Zweck mehrere neue Identitäten. Unter dem Namen Mario beziehungsweise Rodolfo Giustini soll Hass in Rom ein Agentennetz aufbauen. «Ich war vermutlich wertvoll für die», erklärt er 1997 in einem Gespräch mit dem «Spiegel».
Doch Hass spielt offenbar ein falsches Spiel. Das CIC zweifelt immer mehr an seiner Vertrauenswürdigkeit. Immer konkreter wird der Verdacht, dass Giustini alias Hass auch für das Kommunistische Informationsbüro arbeitet. Schliesslich lässt ihn das CIC 1953 fallen. Hass darf in Italien bleiben. Dies unter der Bedingung, dass er jegliche geheimdienstliche Tätigkeit aufgibt.
Am 8. Mai 1953 stellt seine erste Frau Ingeborg beim Amtsgericht Berlin-Charlottenburg den Antrag, ihn für tot zu erklären. Ob sie gewusst hat, dass ihr Ehemann noch lebt, geht aus den Quellen nicht hervor. Der angeblich Tote ist derweil in Italien als Importeur von Spielwaren aus Westdeutschland tätig.
Ausserdem verdient sich Karl Hass auf Vermittlung eines Freundes etwas Geld mit kleineren Filmrollen. Und was könnte ein ehemaliger SS-Offizier besser spielen als einen Nazi-Schergen? Im italienischen Thriller «London ruft Nordpol» mit Curd Jürgens als Hauptdarsteller spielt er einen Gefängnisaufseher. Einige Jahre später taucht er in Luchino Viscontis «Die Verdammten» auf. In diesem Film mimt er einen SA-Führer.
Im Februar 1962 stellt die italienische Militärstaatsanwaltschaft die Fahndung nach Hass ein. Allzu sehr scheinen sich die Verantwortlichen bei der Suche nicht angestrengt zu haben, ist Hass doch gleichzeitig unter seinem richtigen Namen für die Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Italien tätig. Den Kontakt in seine alte Heimat hält Hass während der ganzen Zeit aufrecht. Als er bei einem Besuch in Deutschland erfährt, dass er für tot erklärt wurde, lässt er den Beschluss vom selben Amtsgericht wieder rückgängig machen.
Im Nachhinein wäre Hass vielleicht froh gewesen, er wäre er nie mehr unter seinem richtigen Namen aufgetaucht. Nach dem Debakel des ersten Priebke-Prozesses geben die Römer Staatsanwälte nämlich nicht auf und nehmen 1997 das Verfahren wieder auf. Doch dieses Mal wird nicht nur Priebke angeklagt, auch Karl Hass soll wegen Mordes zur Rechenschaft gezogen werden.
Am 7. März 1998 verurteilt ihn das italienische Militärgericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe – fast 54 Jahre nach dem Massaker. Hass wehrt sich zuerst dagegen, die Schweiz zu verlassen und seine Strafe anzutreten. Schliesslich reist er doch nach Italien. Aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit und der Tatsache, dass er ursprünglich freiwillig zum Prozess nach Italien gekommen war, wird seine Gefängnisstrafe in Hausarrest umgewandelt. Karl Hass stirbt 2004 in einem römischen Altersheim an Herzversagen. Bereut hat er seine Taten nie.