Watson.ch. Vor 50 Jahren scheiterte James Schwarzenbach mit seiner Überfremdungs-Initiative knapp an der Urne. Im Interview sagt Migrationsforscher Gianni D’Amato, wie es zur historischen Abstimmung gekommen war und wie sie die Schweiz veränderte.
Interview
Herr D’Amato, die Proteste gegen rassistische Gewalt in den USA sind auch bei uns angelangt. Hat die Schweiz ein Rassismusproblem?
Gianni D’Amato: In der Schweiz war Rassismus schon immer ein Problem. Nur weigert man sich oft, das anzuerkennen. Obwohl es eine Kommission gegen Rassismus und die Fachstelle zur Bekämpfung von Rassismus und seit 1994 ein Anti-Rassismus-Gesetz gibt, ist es noch immer ein mit Scham behaftetes Thema, das nicht offensiv angegangen wird. Aber ich würde die Situation in der Schweiz nicht direkt mit dem historischen Rassismus in den USA vergleichen.
Wo liegen die Unterschiede?
In der Schweiz ist der Rassismus mit der Migrationspolitik und der Einstellung gegenüber Einwanderern verknüpft, wenn man vom Antisemitismus absieht. Der amerikanische Kontext ist anders. Der dortige Rassismus hängt mit der Sklaverei zusammen, mit der Nationenbildung der USA, das sich als Land der Befreiung inszeniert, das aber mit einer Ursünde belegt ist, weil es nach der Unabhängigkeit die Sklavenarbeit der aus Afrika stammenden Schwarzen nicht abgeschafft hatte. Diese Wunde ist nie wirklich verheilt und das Thema längst nicht abgeschlossen.
In den USA spricht man von strukturellem Rassismus, der bis heute tief in den Institutionen verankert ist.
Ja, wobei das in der Schweiz nicht anders ist. Rassismus heisst ja, dass Leute als Einheit, als «Rasse» – was ein pseudowissenschaftlicher Begriff aus dem 19. Jahrhundert ist – zusammengefasst werden und dass ihnen bestimmte Attribute zugeschrieben werden. Und diese Zuschreibungen sollen ihre Unterlegenheit legitimieren. Dass sich «weisse Schweizer» gegenüber «Fremden» überlegen fühlen, hat auch hier bei uns Tradition und ist tief in unseren Strukturen verankert.
Wie?
Struktureller Rassismus gibt es ja nicht nur gegenüber schwarzen Menschen. Die Schweiz hat eine lange Geschichte der Einwanderung unterschiedlicher Gruppierungen. Antisemitismus oder Antiziganismus waren bereits im 19. Jahrhundert weit verbreitet und in den Schweizer Institutionen verfestigt. Die Schweizer Verfassung galt bis in die 1870er-Jahren ausschliesslich für Christen. 1893 wurde per Volksinitiative ein Schächtverbot eingeführt, was als klare antisemitische Aktion zu verstehen war.
Was uns zu James Schwarzenbach führt, der es 1970 schaffte, die fremdenfeindlichen Ressentiments von Schweizerinnen und Schweizern in einem gemeinsamen Feindbild zu bündeln: den italienischen Gastarbeitern. Warum war die Politik Schwarzenbachs so erfolgreich?
Schwarzenbach hat immer von einem «einzigartigen Patrimonium» gesprochen. Die Schweiz als Abstammungsgemeinschaft, mit seiner direkten Demokratie, den Landschaften, die Verfassung, die muss bewahrt werden vor den Leuten oder vor Entwicklungen, die von aussen kommen und alles in Gefahr bringen. Das Fremde muss abgewehrt werden.
Warum diese Angst vor dem Fremden?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff der «Rasse» durch denjenigen der «Kultur» ersetzt. So wurde der Neorassimus eingeläutet oder der kulturell orientierte Rassismus. Die Kultur einer Gruppe wurde quasi als Programm gesehen, wonach gelebt und auf das letztlich das Verhalten determiniert wird. Es hiess: «Die haben eine andere Kultur, darum passen wir nicht zusammen.» Einwanderinnen und Einwanderer galten mit ihrer fremden Kultur als nicht assimilierbar.
Schwarzenbach sprach von Überfremdung.
Der Begriff der «Überfremdung» wurde lange vor Schwarzenbach etabliert, am Ende des 19. Jahrhunderts. 1931 trat das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, kurz Anag, in Kraft mit dem ausdrücklichen Ziel, die «Überfremdung» zu verhindern. Mit der Schaffung des Saisonnierstatuts sollte dafür gesorgt werden, dass ausländische Arbeitskräfte nach Bedarf schnell wieder abgeschoben werden konnten. So sollte verhindert werden, dass sie sich längerfristig in der Schweiz niederliessen oder gar ihre Familien nachziehen und ein Prozess der Integration hätte stattfinden können. Das neue Gesetz festigte die Ideologie der «Überfremdung» auf Bundesebene.
Das Gesetz hielt die Gastarbeiter nicht davon ab, in die Schweiz zu kommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lag Europa in Trümmern. Die Schweiz und ihre Industrie war intakt geblieben, die Wirtschaft boomte. Die Schweiz war auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. 1950 lebten 140’000 Italiener in der Schweiz. Zehn Jahre später waren es 346’000 und 1970 rund 600’000.
Die Arbeitslosigkeit war tief und die Wirtschaft florierte als Schwarzenbach seine Überfremdungs-Initiative aufs Tapet brachte. Warum konnte seine Politik so gut gedeihen?
Schwarzenbach war nicht der erste, der das aufs Tapet brachte. Schon in den 50er-Jahren problematisierten die Gewerkschaften und die Sozialdemokraten den Zustrom an ausländischen Arbeitskräften. Viele übernahmen den Überfremdungs-Duktus, sprachen von der «Vermehrung ausländischer Arbeitskräfte». Sie befürchteten die Italienerinnen und Italiener drückten das Lohnniveau und erwarteten eine Überhitzung der Wirtschaft. Die Gewerkschaften trauten dem Boom nicht, Ängste einer Inflationsspirale kamen auf. Sie dachten, irgendwann kommt die Krise und dann sind all diese Leute im Land.
Aber vorerst kam die Krise nicht.
Dafür aber ein entscheidender politischer Beschluss. In den 60er-Jahren wurden die bilateralen Verträge mit Italien neu verhandelt. Kritik aus dem Nachbarsland wurde laut, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Gastarbeiter unterirdisch seien. Bei einem Besuch des italienischen Arbeitsministers in der Schweiz, beklagte er dies in aller Öffentlichkeit, was als grosser Affront galt. Die Debatte war lanciert. 1964 unterzeichneten Italien und die Schweiz ein Abkommen, das die Situation von italienischen Arbeitnehmern erheblich verbesserte. Künftig konnten sie nach fünf Jahren als Saisonnier eine Jahresaufenthaltsbewilligung beantragen. Aber das wichtigste war: Die Gastarbeiter durften fortan die Ehefrau und minderjährige Kinder in die Schweiz nachziehen. Das hiess, dass die Italienerinnen und Italiener nicht in ihr Land zurück gingen, sondern dass sie blieben und ihre Familien mitbrachten.
Was passierte dann?
Das war eine Signalwirkung für James Schwarzenbach und seine rechtsextreme Nationale Aktion. Er nahm den Vorschlag der Überfremdungs-Initiative der Demokratischen Partei des Kantons Zürichs wieder auf, die bereits 1965 eingereicht, aber wieder zurückgezogen wurde. Er forderte, der Ausländeranteil sollte auf zehn Prozent beschränkt werden, was damals zur Folge gehabt hätte, dass auf einen Schlag 300’000 Personen hätten ausgewiesen werden müssen.
Schwarzenbach erkannte also das Potenzial dieser Debatte?
Ja, zu dieser Zeit funktionierte der Diskurs der «Überfremdung» sehr gut. Dank der direkten Demokratie konnte Schwarzenbach nach dem «Try and Error»-Prinzip schauen, was funktioniert und was nicht. Einen ersten Versuch unternahm wenige Jahre vor ihm bereits die Demokratische Partei des Kantons Zürichs. Sie reichte 1965 eine erste Überfremdungs-Initiative ein, zog sie dann aber wieder zurück, bevor es zur Abstimmung kam. Schwarzenbach hatte mehr Erfolg. Er wurde bis tief in die Linke hinein unterstützt und scheiterte schliesslich am 7. Juni 1970 nur sehr knapp an der Urne. 46 Prozent der Stimmberechtigten, damals nur Männer, sagten Ja, in acht Kantonen erreichte die Initiative eine Mehrheit.
Für die Italienerinnen und Italiener waren das traumatische Jahre. Wie erlebten sie diese Zeit?
Die Schwarzenbach-Initiative vor fünfzig Jahren war ein gesellschaftliches Ventil zum Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Was das für die Italienerinnen und Italiener bedeutete, zeigt der Film «Braccia si, uomini no» (Arbeitskräfte ja, Menschen nein) von Peter Ammann und René Burri eindrücklich. Die Leute standen damals offen zu ihren xenophoben Einstellungen. Mitten in Zürich wurden Ausländerinnen und Ausländer angefeindet. Die Stimmung war überhitzt.
Schwarzenbach war der Erste, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Migration zum Mittelpunkt seiner Politik machte. Warum er, warum in der Schweiz?
Während dem Zweiten Weltkrieg mussten sich die Länder nicht nur materiell und militärisch, sondern auch geistig verteidigen. Dazu gehörte, herauszufinden, wer man war und zu definieren, was dazugehörte und was nicht. Dieses wirkte auch in der nachfolgenden Konjunktur. Nebst der Schweiz gab es nur ein Land, wo ebenfalls die Überfremdungs-Debatte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist: England. Enoch Powell, der damalige Gesundheitsminister, thematisierte die Überfremdung von England in flammenden Reden und zielte auf die Einwanderer aus den britischen Kolonien.
Was war die Gemeinsamkeit von England und der Schweiz?
Interessanterweise sind es zwei liberale Staaten, die während des Zweiten Weltkriegs nicht von Nazideutschland besetzt wurden. England war natürlich schwer angeschlagen wegen der Bombardements, während die Schweiz aufgrund der Neutralität und ihrer ambivalenten Rolle bedeutend weniger Schaden genommen hat. Beide Länder hatten ein Freiheitsbild und Demokratieverständnis, das eigentlich alles Denken und Meinen erlaubte. Was ein wichtiges und starkes Element in einer Demokratie ist, kann aber auch in eine andere Richtung schlagen. Darum wurde in den 60er-Jahren das Bild von den Fremden, die nicht dazugehören, aktiviert und ohne Hemmungen thematisiert. Das wäre in Ländern, wo kurz vorher noch der Faschismus grassierte, so nicht möglich gewesen. Da war das Tabu grösser.
Schwarzenbach versuchte es 1974 erneut mit einer Überfremdungs-Initiative und scheiterte. Auch die weiteren Vorstösse zum Thema erhielten an der Urne eine Absage. So in den Jahren 1977, 1984, 1988, 1996 und 2000. Funktionierte die Überfremdungs-Debatte plötzlich nicht mehr?
In den 70er-Jahren kam es zur Ölkrise und erfasste auch die Schweiz. Die Debatte verlagerte sich, die Menschen hatten plötzlich andere Sorgen. Es ging um die Sicherung der Arbeitsplätze und um soziale Absicherungen. Die Migration war im Vergleich nicht mehr so wichtig. Vor allem auch, weil innerhalb kurzer Zeit viele ausländische Arbeitskräfte die Schweiz verliessen. Weil sie ihren Job verloren, verloren sie auch ihre Niederlassung. In vier Jahren sank die Zahl der Gastarbeiter um 300’000 – die Schweiz exportierte damit sozusagen ihre Arbeitslosigkeit. Erst Christoph Blocher gelang es in den 90er-Jahren, das Thema wieder erfolgreich zu beleben, indem er es auf die Asylfrage adaptierte.
2014 gelang Blocher das, woran Schwarzenbach 1970 scheiterte: Die Masseneinwanderungsinitiative wurde an der Urne mit einer hauchdünnen Mehrheit angenommen. Warum hatte Blocher Erfolg?
Dafür gibt es viele Gründe, ein wichtiger ist die politische, anthropologische Verschiebung im Tessin. Bis in die 70er-Jahre war das Tessin ein liberaler Kanton was Migrationsthemen anbelangt. Man wehrte sich gegen Überfremdungs-Reflexe und schmetterte auch die Schwarzenbach-Initiative ab. Doch dann veränderte sich das Verhältnis der Tessiner zu den Italienern und zur übrigen Schweiz. Die Nordlombardische Region mit der Mailänder Metropole erstarkte und wurde immer dynamischer. Plötzlich fühlten sich die Tessiner marginalisiert, sowohl von der Deutschschweiz, wie auch von der Lombardei aus. Das spielte auch politisch eine grosse Rolle. 2014 ging es nicht nur um die Einwanderung, sondern auch um die rasante Entwicklung der Technologien, um Dichtestress, Europa. Es ist das Gesamtpaket das gezogen hat – vor allem auch im Tessin.
Schwarzenbach hat der fremdenfeindlichen Politik in der Schweiz den Weg geebnet. Blochers Erfolg, der Aufstieg der SVP und die Schweiz als Vorbild für den Rechtspopulismus in Europa – all das wird als Erbe von Schwarzenbachs Politik gesehen. Wäre die Schweiz ohne Schwarzenbach heute eine andere?
Eine schwierige Frage. Ich denke, hätte es Schwarzenbach nicht gegeben, so hätte es jemand anderes gegeben, der das Thema aufgenommen und populär gemacht hätte. Letztlich sind es die institutionellen Strukturen der Schweiz, die dies schon damals erleichtert hätten.